Die Gemeindeversammlung

Aufgeschrieben habe ich nur einen Satz an der Gemeindeversammlung gestern Abend, am Vortag des heutigen 175. Geburtstages der Schweizerischen Eidgenossenschaft als Bundesstaat: Vom „Zufallsmehr von Gemeindeversammlungen“, sprach Jürgen Ritschard, altgedienter Gemeindepräsident der Einwohnergemeinde Unterseen. Natürlich sagte Ritschard noch viel mehr, erwähnte auch anerkennend die Verfassung von 1848, in der wir uns in der Schweiz politisch noch immer frei bewegten.

Zufallsmehr von Gemeindeversammlungen

Aber ich hatte keinen Grund zu schreiben, war nicht als Medienschaffender dort, sondern als Stimmbürger.
Und eigentlich gehe ich schon lange nicht mehr an Gemeindeversammlungen, habe mich daselbst vor Jahrzehnten mit einer kurzen Erklärung abgemeldet und begründete meinen Abschied auch mit dem Zufallsmehr von Gemeindeversammlungen.

Dass ich gestern hinging und nun sogar darüber schreibe, nachdem ich auf dieser meiner öffentlichen Plattform monatelang geschwiegen habe, hat verschiedene Gründe:

  • Der Satz des Gemeindepräsidenten. Er erklärte Gemeindeversammlungen zwar zum Unsinn. Aber er meinte das natürlich nicht wirklich, und wahrscheinlich werden ihn nur solch ordnungspolitische Haarspalter wie ich beim Wort nehmen: Wenn sich bei Gemeindeversammlungen jeweils nicht der Volkswille durchsetzt, sondern ein Zufallsmehr, müsste man diese weit vor 1848 zurückgreifende demokratische Entscheidungsform ernsthaft hinterfragen.
    Der Gemeindepräsident tat das gestern freilich nicht, sondern er taktierte einfach – und wurde verstanden: Eine Stimmbürgerin (die Frauen dürfen in Unterseen tatsächlich mitreden), die an einer der letzten Gemeindeversammlungen mit für ein Zufallsmehr gesorgt hatte, meldete sich zu Wort und verteidigte ihr zufallsmehrheitliches Vorgehen.
  • Ein weiterer Grund für die Berichterstattung an dieser Stelle war eine Bemerkung des Gemeindepräsidenten nach Beginn der Gemeindeversammlung, die etwa 130 Stimmberechtigte besuchten – normalerweise kommen viel weniger, aber verschiedene Kräfte hatten im Vorfeld etwas getan, um ein Zufallsmehr in eine bestimmte Richtung zu lenken.
    Der Gemeindepräsident sagte, und ich empfand seinen Ton als etwas klagend, dass sich allfällig einfindende, nicht stimmberechtigte Medienschaffende an den Rand der Versammlung setzen würden.
    Wie die Screenshots der regionalen Massenmedien von heute zeigen, war offenbar wirklich niemand da, obschon eine Gemeindeversammlung gewiss von öffentlichem Interesse ist und diese Versammlung besonderen Zündstoff bot.
    Also berichte ich – und zwar mit globaler Reichweite in vielen Sprachen der Welt (absurd wahr: analog zum Spruch vom Zufallsmehr).

Theater um Selbstverständlichkeiten

Screenshot JungfrauZeitung: keine Berichterstattung.
  • Dass ich an die Gemeindeversammlung ging, obschon ich da nicht mehr hingehe, hatte mit einem besonderen Geschäft zu tun: Verschiedene Leute und Parteien drängen darauf, dass die Gemeinde Unterseen wieder eine Geschäftsprüfungskommission (GPK) einrichten solle.
    Eine solche Kommission, die Arbeit und Geschäfte von Behörde und Verwaltung prüft, gibt es es auf Schweizerischer Gemeinde-, Kantons- und Bundeseebene allerorten, sie ist Standard.
    Unterseen hatte die GPK vor Jahren wohl mit einem Zufallsmehr abgeschafft. Mann hatte kaum damit gerechnet, dass staatspolitisch ignorante Kräfte in Unterseen dereinst die politische Macht ergreifen und die Gemeinde mit atemberaubender Selbstverständlichkeit und Unverforenheit teils zum eigenen Unternehmen, teils zum Selbstbedienungsladen umfunktionieren würden – Unterseen war jahrzehntelang eine sozialdemokratische Hochburg gewesen, sekundiert von einem weitum geachteten Oberländischen Volksblatt; der abwesende Lokaljournalist und ein ebenfalls abwesendes ewiges Exekutivmitglied haben zuvorderst die Gemeinde und das Blatt zuschanden geritten.
  • Der eigentliche Grund, der breiten Öffentlichkeit von der Gemeindeversammlung zu berichten, ist ein überraschendes, doppeltes Zufallsmehr: zustande gekommen in einer Allianz von bürgerlichem Freisinn und sozialdemokratischer Linken gegen die übliche Phalanx der rechtsbürgerlichen SVP und ihrem christlich-orthodoxen Anhängsel EDU. Die Gemeindeversammlung beauftragte den Gemeinderat mit zwei Stimmen Mehrheit, für eine der nächsten Gemeindeversammlungen eine Geschäftsprüfungskommission zu traktandieren.
    Im Vorfeld der Versammlung hatte ich mich unter anderem mit dem Argument gegen den Gemeindeversammlungsbesuch gewehrt, ich wolle nicht immer verlieren. „Ich habe zum ersten Mal gewonnen“, sagte ich nach Auszählung der Stimmen zu Kurt, der in der Reihe hinter mir sass.
    Freilich gilt es abzuwarten: Den abgefeimten Taktierern in der Unterseener Exekutive ist es ohne weiteres zuzutrauen, Winkelzüge zu finden, die eine GPK verhindern – wir bleiben dran.
  • Zu schlechter Letzt: Obwohl ich und andere Stimmberechtigte am Anfang der Gemeindeversammlung darum gebeten hatten, sich und dem anwesenden Stimmvolk lange und langfädige Diskussionen um Organisationsreglemente zu ersparen, beharrten vorab die beiden Alphatiere im Gemeinderat darauf, ein ermüdendes Prozedere durchzuziehen – und zuletzt auf die Schnauze zu fallen: Der Souverän schickte die Teilrevision der kommunalen Verfassung bachab, nachdem sie der Gemeinderat mühsam durchgekaut hatte.
    Die Argumentation der Exekutive, das Stimmvolk mit Formalitäten zu quälen, war dabei just ordnungspolitisch und pingelig. Und obschon sich juristisch beschlagene Fachleute aus der Versammlung heraus wehrten, liessen sich die Herren nicht beirren – und mussten gleichzeitig aus der Versammlung wieder und wieder zur Ordnung gerufen werden, etwa in Sachen Ordnungsanträgen.

Alphaböcke instrumentalisieren

Zum Schluss noch dies: Mein Ältester hatte gestern seine letzte Gemeindeversammlung als Gemeinderat. Wir haben praktisch nie über seine Arbeit gesprochen – man darf über die meisten Angelegenheiten der Exekutive nicht sprechen und soll das auch nicht. Mein Sohn und ich nehmen das ernster, als man sich wahrscheinlich vorstellen kann.
Als mir gestern bei einer kurzen Wortmeldung das Mikrofon gebracht werden sollte, fand ich das Geläufe und Gewarte unnötig und rief etwas patzig von ganz hinten nach ganz vorn: „Gäll, Oliver, du versteisch mi.“ Er schüttelte den Kopf, war verärgert und sagte mir das heute auch. Ich bat ihn um Entschuldigung, bin aber wütend und traurig.

Screenshot Berner Oberländer: keine Berichterstattung.

Er war im Unterseener Gemeinderat eine mehrfache, permanent marginalisierte Minderheit: als Junger, als moderater Linker, als ernsthafter und fleissiger Demokrat und empathischer Brückenbauer. Das Vizepräsidium, aus Gewohnheitsrecht ihm und seinem SP-Kollegen zustehend, haben ihm die Alphamännchen samt ihren exekutiven Epigonen verweigert, nicht ein Geschäft konnte er in seiner Amstzeit vor der Gemeindeversammlung vertreten.
Und nicht einmal verabschiedet hat ihn der Gemeinderat: mit Verlaub eine Frechheit.
Aber zur Unterseener Alp Sefinen ist er mehrmals marschiert, um dort die Exekutive zu vertreten – die mehrstündige Wanderung haben sich die hüftsteifen Herrschaften geschenkt.

Ich bin wütend und traurig: Dass zum einen eine solche Lappalie wie der Zuruf wegen des Mikrofons unser Verhältnis trübt, und wie zum anderen und vor allem die wesentlichen Dinge just wegen solcher Kleinigkeiten unter dem Teppich bleiben.
Dabei werden emotionale Argumente systematisch missbraucht, um gegen kritische Kräfte zu mobilisieren: Alphaböcke, die wie in der Exekutive Unterseen die Demokratie nach Gusto instrumentalisieren, gibt es überall und immer wieder.

Vom Bauernkrieg bis zum Berner Oberland

Und wenn der Unterseener Gemeindepräsident die Verfassung von 1848 heranzieht, deren Geburtssunde wir heute feiern, sei einerseits von den Bauernkriegen bis zum Kanton Berner Oberland daran erinnert, wie viele kritische Kräfte hingehalten, hintergangen und hingerichtet wurden, bis der freiheitliche Bundesstaat erreicht war.
Andererseits und nicht zuletzt standen die politischen Kräfte, die in Unterseen heute das Sagen haben, damals als Gnädige Herren und Handlanger auf der falschen Seite.
Mithin müssen wir noch immer und immer wieder wehren. Gestern haben wir es in Unterseen mit einem Zufallsmehr geschafft.

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