Wahrheit ist Lüge: Doppeldenk gewinnt

Im nüchternen Dokumentarfilm Ikarus beschreibt der langjährige Leiter des russischen Dopingwesens nicht nur umfassend das Funktionieren des gross angelegten Betrugs und seiner Vertuschung, sondern erläutert auch überzeugend die gedankliche Grundlage eines gigantischen Lügengebäudes, das gewiss nicht nur in Russland steht (gäll, Mide): 1989 habe er George Orwells Buch 1984, das vordem im Land verboten gewesen sei, zum ersten Mal gelesen, sagt der Russe im Dokumentarfilm; das Buch sei ihm vorgekommen wie eine Landkarte der herrschenden Verhältnisse und wie ein Leitfaden fürs Leben.
Die herausragenden Wegmarken: zu lernen, Wahrheit und Lüge zu verdrehen; zu verstehen, was der Zweck solcher Verdrehung ist; schliesslich den Sinn der Verdrehung zu akzeptieren.

Heute dummdreist, aber gut gelaunt

„Frauen regieren die Welt“, schreibt die Weltwoche, bei der 1988 meine journalistische Arbeit begann, zurzeit in einer breit angelegten Werbekampagne – untermalt von der Zeile: „Die andere Sicht – unabhängig, kritisch, gut gelaunt.“

„Frauen regieren die Welt.“
Mann möge diesen Satz stehen und eine Weile wirken lassen – dann vorsichtig in der Werbung weiterlesen und einer Aneinanderreihung von Lügen begegnen, gut gelaunt vorgetragen als Wahrheiten: atemberaubend!

Dummdreiste, aber gut gelaunte Weltwoche.

In den 1980er Jahren waren mir ähnlich haarsträubende Kompositionen erstmals aufgefallen: In Blättern wie der „Schweizerzeit“ verbreiteten alte Habsburger Monarchisten und andere Ewiggestrige Thesen, die ähnlich dummdreist waren wie die aktuelle der Weltwoche.

Einst dummdreist, aber verbiestert

Allerdings wurden sie weiland zum einen nicht gut gelaunt, sondern revanchistisch und verbiestert vorgetragen.
Zum andern und vor allem nahm sie damals niemand wirklich ernst: Das kapitale Patriarchat mied solche Extreme noch; Gründe mögen die Korrektive des als Kommunismus desavouierten Staatskapitalismus gewesen sein sowie eine gewisse nachwirkende Scham ob der faschistischen Greuel des patriarchalen Kapitals in der Generation zuvor.

Heute, eine weitere Generation später, sind die Ewiggestrigen von damals lautstark und gut gelaunt wieder im Heute angekommen – und tief in den Mitten der Gesellschaften und Debatten verankert: Selbst einfältigste und bösartigste Lügen berühren nicht mehr peinlich, vielmehr brauchen sogar augenfälligste Wahrheiten heutzutage Rechtfertigungen – atemberaubend!

Doppeldenk: populär und wirkungsvoll

George Orwell hat mit dem Konzept von Doppeldenk dazu die Theorie geliefert, die den russischen Dopingchef so beeindruckte. Von Walter Lippmann wiederum stammt die vielfach geübte, gnadenlose Praxis dazu – beide Autoren schöpften vorab aus der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Weiter zurück greift das Konzept von Narren und Idioten: Narren wissen demnach nicht, was sie tun und lassen, Idioten hingegen sind schon bei den alten Griechen vor rund 2500 Jahren Leute, die es eigentlich wissen, aber nicht wollen.
Natürlich waren das Männer.

PS
„Unwissenheit ist Stärke“, lautet eine weitere tiefsinnige Sentenz in 1984, und zu ergänzen ist sie mit „Wissen ist Macht“: Diese Phrase erleidet allpott orwell’sche Verdrehungen, und damit behelligt werden namentlich die Jungen in der Schule. Denn die klassische Doppeldenkphrase meint eben nicht nur, Wissen bedeute grundsätzlich Macht. Vielmehr verdeutlicht der Satz, dass bestimmtes Wissen Macht verleiht – ein erpresserisches Wissen, eine bösartige Macht, veranlasst von Idioten: Männer natürlich.

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