Pervertierte Demokratie

Mythen sind Geschichten, die Emotionen wecken. In der Schweiz handeln einige dieser Geschichten von der direkten Demokratie, vom Zusammenstehen des Volkes, vom offenen Diskutieren und Abstimmen. Mythisch aufgeladene Orte sind Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen – unvergessen 2006 der Entscheid des Glarner Stimmvolks, aus dem Stand und völlig überraschend volle 25 Gemeinden zu fusionieren und ganze 3 übrigzulassen.

Von der Unterseener Gemeindeversammlung habe ich mich schon vor Jahren verabschiedet: In einem letzten Votum dankte ich der Behörde und der Verwaltung für ihr Engagement und hielt fest, dass ich diese absurde Veranstaltung nicht mehr besuchen und damit legitimieren werde. Einmal war ich seither noch dort: als mein Sohn zum ersten Mal in der Regierungsverantwortung vor den Souverän trat. Waren damals 40 Stimmberechtigte da, waren es ein paar mehr, ein paar weniger – waren es 1, 2 oder 3 Prozent des Stimmvolkes?

Eine Handvoll Leute fällt ein Millionenprojekt

Das ist die Regel, Ausnahmen haben ganz bestimmte Gründe: dass eine Turnhalle saniert werden muss und die Turn- und Sportvereine ihre Mitglieder zur Gemeindeversammlung rufen, oder dass eine Überbauungsordnung auf der Traktandenliste steht und die Anwohnerschaft aufkreuzt und sie durchwinkt oder durchkreuzt.
Anfang dieser Woche waren kaum drei Dutzend Leute zu mobilisieren, um ein Projekt zu bodigen, das in den letzten Jahren mindestens so viele Leute intensiv beschäftigt hat: Das traditionsreiche Medizinalunternehmen Bichsel, das mit rund 300 Mitarbeitenden zwischen Spital, Abwasserreinigungsanlage und Thunersee hochwertige Produkte herstellt, wollte Millionen investieren und die Anlagen erweitern und konzentrieren.

Einen Steinwurf von Bichsel entfernt wurde diese Gesundheitsbaute, die nur kostet, Realität.

Ich mag mich jetzt nicht beklagen, dass Bichsel hierzuberge eine der wenigen Firmen ist, die wertschöpfungsintensiv ist und nicht vom wertschöpfungsschwachen Tourismus lebt oder von öffentlich finanzierten Branchen wie der Landwirtschaft, der Armee oder dem öffentlichen Verkehr.
Und schon gar nicht mag ich den Stimmberechtigten, die Bichsels Pläne durchkreuzten, einen Strick drehen: Es ist ihr gutes Recht, an die Gemeindeversammlung zu gehen und sich nach Gutdünken zu äussern.

„Die Gemeindeversammlung gehört abgeschafft“, findet indes meine Frau und Geliebte, und ich setze noch eins drauf: Auch die drei eng aneinandergschmiegten Behörden Unterseen, Interlaken und Matten, die es zusammen rund 20’000 Menschen repräsentieren und damit eine der grösseren Städte im Kanton Bern wären, gehören abgeschafft und fusioniert.

Das Wahnwitzige daran: Beide Ideen sind chancenlos.

Ersten Kommentar schreiben

Kommentar verfassen