Als das Berner Oberland ein kühner Kanton war

2008 hat Ernst Schläppi, Bauernsohn aus dem Emdthal, langjähriger Lehrer in Unterseen, späterer Schulinspektor im Berner Oberland und Gemeindepräsident in Unterseen, zwei stattliche Bände zur Geschichte Unterseens publiziert. Dabei wählte er einen faszinierenden Ansatz: Schläppi schrieb die beiden Bücher, die sich keineswegs auf Unterseen beschränken, sondern sozusagen von hier ausgehen, entlang von Originaldokumenten. Diese Dokumente stellt Schläppi in der Regel im Original vor, erläutert sie und stellt sie schliesslich in den historischen Zusammenhang – das Titelbild zeigt die Schlacht bei Neuenegg, wo Napoleons Truppen Anfang März 1798 die Sense überschritten, Bern überrannten und in der Folge unter anderem die Kantone Waadt, Aargau und Berner Oberland installierten.

Aus Schläppis Perspektive ergibt sich eine ebenso lebensnahe wie spannende und nachvollziehbare Geschichte: etwa wenn Unterseener Eltern sich um 1530 beklagen, dass ihre Kinder nicht mehr zuhause helfen können, sondern in die Schule müssen, wenn gleich zwei Generationen von Müllern namens Grunder aus Vechigen im frühen 17. Jahrhundert für den Betrieb der Mühle Unterseen Bürgen brauchen, oder wenn die Berner Oberländer sich nach den Unspunnenfesten von 1805 und 1808 weigern, in den Krieg zu ziehen, um den neuen Kanton Waadt wieder dem Kanton Bern einzuverleiben – weshalb die Berner Obrigkeit bis 1905 von weiteren Unspunnenfesten absehen muss.

Die Gemeinde Unterseen, welche den teuren Druck der insgesamt fast vier Kilo Bücher mitfinanziert hatte, stellte die beiden Bände erst unter einigem Druck und nach langem Drängen der Öffentlichkeit im Internet zur Verfügung – im Link ganz nach unten scrollen.

Die beiden faszinierenden Bände rechts bieten nahrhafte Kost.

Nachfolgend nach Absprache mit Ernst Schläppi ein besonders aufwühlender Abschnitt aus dem ersten Band: als das Berner Oberland ein Kanton der Schweiz war, von reaktionären Truppen besetzt wurde, aber mutig und solidarisch an den neuen demokratischen Rechten festhielt:

Am 12. April 1798 versammelten sich im Rathaus in Aarau die Senatoren und Grossräte aus zehn Kantonen, die zuvor von den zu ihrer Wahl ausgeschossenen Abgeordneten bestimmt worden waren. Sie hatten die erste, vom französischen Regierungskommisär verfügte schweizerische Verfassung zu genehmigen, die dem Wortlaut nach auf der Souveränität des Volkes und auf den neuen Freiheitsrechten beruhte, aber vom Volk selber nicht gebilligt war.

Nach französischem Muster wurde an die Spitze des neuen Staates ein Direktorium von fünf Männern aus den Kantonen Basel, Solothurn, Luzern, Waadt und Bern gestellt. Dieses setzte seinerseits als Leiter der Verwaltungsabteilungen die Minister ein, darunter als wichtiger Mann Philipp Emanuel Stapfer, der vordem bernischer Theologieprofessor gewesen war.

Die Besetzer forderten von den ehemals regierenden patrizischen Familien millionenschwere Kontributionen. Zusätzlich mussten die Kantone und die Gemeinden die Kosten für die Unterkunft und die Verpflegung der fremden Truppen tragen.

Die Franzosen aus dem Oberland vertreiben

Es gärte vor allem in den von der französischen Besetzung noch frei gebliebenen Gebieten. In der Innerschweiz regte sich offener Widerstand, 10’000 Mann wurden mobilisiert und unter den Oberbefehl des Schwyzers Alois Reding gestellt. Zum Abwehrkampf gegen die hier verhasste Einheitsverfassung gehörte ein Einfall der Innerschweizer am 23. April 1798 über den Brünig herüber, mit dem Ziel, die Franzosen zu verjagen. Die Aktion war ein Misserfolg. Die passive und ablehnende Haltung der Bevölkerung im Oberhasli zwang die 1000 Mann starke Truppe zum Rückzug.

Nur wenige Tage später, am 28.April erfolgte schon ein zweiter Versuch unter General Aufdermaur mit Truppen aus Schwyz, Unterwalden und Glarus. Doch auch dieses Mal lehnten es die Hasler ab, „durch das Land hinab nach Thun und Bern zu ziehen, um die Franzosen aus dem Vaterland zu vertreiben“. Erst als die Kommandanten ankündigten, dass noch 30’000 Graubündner kommen würden und man die Häuser anzünden werde, waren die Hasler „in Forcht und Schrecken“ versetzt und in ihrer Mehrzahl bereit mitzuziehen. Ihre Landsgemeinde forderte anschliessend die Gemeinden auf dem Bödeli auf, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Dann wurde in Meiringen der Freiheitsbaum umgehauen.

Die Brienzer hielten dagegen am 29. April, obwohl ihr Dorf von 500 Innerschweizern besetzt war, an einer Urversammlung selbst unter der Drohung des Brandschatzens mit deutlichem Mehr an ihrer helvetischen Gesinnung fest.

Das Oberland beharrt auf den Freiheitsrechten

Unterseen und Interlaken schlossen sich Brienz an und sandten einen Deputierten nach Meiringen, um den dortigen Einwohnern „unsre Anhänglichkeit an unsere neue Konstitution zu verstehen zu geben“.
Obwohl am 30. April im Oberhasli bekannt wurde, dass die Truppen Redings die französisch besetzte Stadt Luzern eingenommen hatten, bewirkten an diesem Tag Ulrich Willi, der ehemalige Landammann des Oberhasli und neuerdings helvetischer Kantonsrichter zusammen mit alt Landesverwalter Andreas Anderegg aus Meirigen mit der Rückendeckung aus Brienz, Interlaken und Unterseen einen Stimmungsumschwung.

Die Munizipalität in Meiringen liess trotz der Anwesenheit der Innerschweizer Truppen vor der versammelten Bevölkerung eine Erklärung verlesen, „keine Waffen gegen die neue Konstitution erheben“ zu wollen.

Darauf kehrten die gleichentags aus dem Simmental, dem Frutigland und aus Grindelwald erschienenen Abgeordneten, nachdem sie diesen Gesinnungswandel festgestellt hatten, nach Hause zurück. Und als am 1. Mai 1798 Zug vor den Franzosen kapitulieren musste, wurde auch das Innerschweizer Expeditionscorps eiligst zurückgezogen.

Berner Oberländer Solidarität

Samuel Joneli, der Regierungsstatthalter des Kantons Oberland, beauftragte anschliessend die Meiringer Munizipalität, die Befürworter des Anschlusses an die Innerschweiz zu verhaften. Zwei Männer wurden daraufhin gefangen gesetzt, doch in der folgenden Nacht von 80 bis 100 Personen befreit. Schliesslich wurde auf die Bestrafung der Beteiligten aufgrund einer für alle kleinen Kantone gültigen Amnestie verzichtet.

Dagegen wurden auf Antrag Jonelis in den helvetischen Räten in Aarau die Verdienste der verfassungstreuen Gemeinden Brienz, Interlaken und Unterseen und der Patrioten Christian Michel aus Bönigen, Johannes Fischer und Seckelmeister Grossmann aus Brienz, sowie alt Landesstatthalter Peter Mühlemann aus Interlaken und alt Venner Peter Sterchi aus Unterseen besonders gelobt. Die Dankesschreiben des Direktoriums in Aarau wurde im ganzen Kanton von den Kanzeln verlesen.

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