Wir Menschenfeinde

Längst ist meine Schere im Kopf so gross, so scharf und so selbstständig, dass Authentisches schwerlich zustandekommen kann. Mithin muss ich mich anstrengen, vernünftige Gedanken zu fassen und mich nicht beschneiden zu lassen von kindischem Unsinn, rundum verpackt mit vermeintlich erwachsenen Argumenten – dabei helfen etwa Nassim Talebs frühe Bücher.

Sexistisches, frauenfeindliches Patriarchat

Nehmen wir das Patriarchat: Vor ein paar Tagen erzählte eine Frau aus Frutigen am Radio, wie sie sich geärgert habe, als die Vereinigte Bundesversammlung vor gut einer Generation nicht die Frau wählte, die vorgeschlagen war als Bundesrätin, sondern einen Mann.
Umso ärgerlicher sei sie gewesen, als sie damals ja erst wenige Jahre ein vollwertiger Mensch gewesen sei, führte sie aus. Der mutmasslich junge Moderator verstand nicht… eh ja, erklärte die Frutigerin, wenige Jahre vorher habe sie ja noch nicht einmal abstimmen und wählen dürfen: schleierhaft, wie mann ernsthaft behaupten kann, unsere Welt sei nicht patriarchal, frauenfeindlich und sexistisch.

Systemische Kinder- und Familienfeindlicheit

Nehmen wir die Kinder- und Familienfeindlicheit: Wir hinterfragen das hierzulande gar nicht – dass die Schule und der Staat grundsätzlich und stillschweigend davon ausgehen, zuhause sei eine Mutter, die ihre Kinder am Morgen weckt, ihnen Frühstück serviert, sie in die Schule schickt, am Mittag mit dem Essen aufwartet und am Nachmittag jederzeit da ist, um die Kinder in Empfang zu nehmen und ihnen zu guter Letzt womöglich bei den Hausaufgaben zu helfen.
Ich höre schon all die glattgebürsteten Opportunisten und Realpolitiker mit ihren Einwänden von Tagesschulen bis Lehrerlöhnen: Die Einwände haben hier wie in fast allen Bereichen immer etwas für sich – in bestimmten Bereichen. Aber sie erfassen das Systemische nicht: Politik und Wirtschaft können gar nicht anders sein als kinder- und familienfeindlich, denn es gibt kein intrinsisches oder immanentes Interesse an Familien und Kindern. In Politik und Wirtschaft geht es zuerst um Macht und Ressourcen und deren Verteilung – völlig klar, dass Familien und Kinder da zwar ständig als ideologische Manipuliermasse dienen, aber nie und nimmer als Kernaufgabe wahrgenommen werden können.

Ein schlagendes lokales Beispiel dafür: Seit Jahrzehnten bemühen sich immer wieder neue Generationen von Jugendlichen im Grossraum Interlaken, einen Spielplatz für Jugendliche zu erhalten. Vor Jahrzehnten gehörte ich dabei zu den jungen Elternteilen, die sich für einen Spiel- und Skaterpark im Bereich der Höhematte aussprachen.
Pädagogisch und gesellschaftspolitisch gibt es an diesem Vorschlag, die Jungen ins Zentrum zu stellen, nichts zu diskutieren: eine niederschwellige soziale Kontrolle durch den zentralen Standort, überdies eine Attraktion für die Flanierenden – damals landeten noch keine Gleitschirme auf der Höhematte. Das Anliegen wurde von den ehrenwerten Herren, die das Sagen haben, nicht einmal erwogen. Die Jugendlichen hier haben bis heute keinen Skaterpark, das letzte Projekt ist wegen Einsprachen blockiert – was mir ganz recht ist, dürfte doch mittelfristig ein teurer Sicherheitsdienst nötig sein, ist doch der geplante Park abseitig und damit ohne niederschwellige soziale Kontrolle.
Aber handkehrum nehmen erwachsene Partikularinteressenvertreter den jugendpolitischen Zweihänder hervor, um eine marode Eis- und Curlinghalle am Leben zu erhalten, und andererseits die Aare vom Bödelibad getrennt zu halten und missbilligend den Kopf zu schütteln, wenn zugezogene Familien arglos vorschlagen, vom Englischen Garten bis zum Bödelibad ein Flussbad à la Schaffhausen oder Zürich einzurichten – und womöglich aufs Des-Alpes-Areal eine grosszügige Sport- und Freizeitanlage zu stellen, samt Handballturnhalle, Eisbahn, Curling und Skaterpark: Müsste ein Brand wie Interlaken so etwas nicht haben? Ich höre schon Kassen das Baugewerbe rattern und seine Kassen klingeln: Auch da ginge es nicht um Jugendförderung, auch da ist das nur eine ideologische Manipuliermasse.
Aber weg mit der Schere im Kopf: Will jemand ernsthaft bestreiten, dass so ein Flussbad samt Sport- und Freizeitanlage weniger vernünftig ist als die geplante knapp zweistellige Millionen-Sanierung der Eishalle, die vollzogene satte zweistellige Millionen-Erweiterung des Kursaals oder die unsägliche, fast dreistellige Millionen-Errichtung des Mysteryparks direkt in den Konkurs?

Versicherungs- und Krankheitswesen

Die Versicherung ist systemisch eine geniale Einrichtung: Wo seltene Risiken sind, die im Einzelfall kostspielig werden können, ist es klug, wenn alle regelmässig ein bisschen Geld in eine gemeinsame Kasse geben. Treten dann die statistisch seltenen Risiken wie Krankheiten, Unfälle, Rechtsfälle, Feuersbrünste, Unwetter und dergleichen ein, bezahlt die gemeinsame Kasse.
Volkswirtschaften, die diese Bezeichnung verdienen, haben denn auch das Versicherungsprinzip früh erkannt und umgesetzt – vielleicht ist die Versicherung gar eine der wirklich staatstragenden Errungenschaften der Moderne, wenn nicht gar der soziale Widergänger des Kapitalistischen.
Freilich ist es überall systemisch gefährlich, wo viele einen kleinen Beitrag an etwas leisten und sich das zu etwas Grossem summiert: Der Drang zu den Töpfen ist gross, und eine wirksame Kontrolle tut Not. Dabei mit dem Schlimmsten zu rechnen und das Beste zu hoffen, ist zwar systemisch zwingend, wird aber politisch gerne zerredet: Ein grosser Teil aller Skandale betrifft die Selbstbedienung an grossen Töpfen, und ein grosser Teil aller PR dient dazu, solche Selbstbedienung zu verschleiern, zu rechtfertigen, zu ermöglichen.
Wohlgemerkt: Private Versicherer, die sich in einem freien Markt bewegen müssen und bestehen, gehören zu den anspruchsvollsten und besten Unternehmen. Sie müssen die Risiken und Chancen ziemlich genau berechnen und können sich keine groben Fehler erlauben – deshalb versichern sie zum Beispiel auch keine Atomkraftwerke und auch keine Liegenschaften mehr in Weltgegenden, die vom Klimawandel schwerer betroffen sind.
Dass der Staat sowohl bei Liegenschaften in Kalifornien oder Florida wie auch bei Atomkraftwerken geradesteht, ist die groteske, aber folgerichtige Konsequenz: Die Menschen saufen einfach ab, über Leichen gehen die politischen Menschenfeinde, die seit wohl 10’000 Jahren unterjochend, mordend und vergewaltigend das Sagen haben und brave Gefolgschaft predigen.
Eine perfide Perversion des Versicherungswesens spielt sich seit bald einer Generation in der Schweiz ab. Obschon alle einigermassen Fachkundigen wissen, dass Versicherungen systemisch Sozialwerke sind, praktizieren wir das Gesundheitswesen in der Schweiz seit Jahrzehnten als Wettbewerb, und zwar im Rahmen einer obligatorischen Krankenversicherung. Dass sich die privaten Versicherer in den oberen Etagen schadlos halten und bei den Versicherten und und Leistungserbringen bedienen, wo es nur geht, liegt auf der Hand: ein Wahnsinn mit Methode – der Chef eines grossen kantonalen Gesundheitsamtes sagte mir letzthin, er könne trotz seines Milliardenbudgets kaum etwas bewegen, da seien zu viele und zu starke Fehlanreize und politische Sachzwänge.

Energischer Wahnsinn

Nehmen wir Erdöl und Atomkraftwerke: Eigentlich kann jedem Kind klar sein, dass die Verbrennung von Erdöl eine unglaubliche Dummheit ist. Zwar taugt anekdotische Evidenz wissenschaftlich nur zur Falsifikation. Aber als „common sense“ vulgo Vernunft haben Praxisbeispiele ihre Berechtigung seit Menschengedenken: Mann stelle sich Kinderwagen an viel befahrenen Strassen vor und atme tief durch – eben.
Zu Atomkraftwerken wiederum sollte mann ebenfalls längst nicht mehr argumentieren und diskutieren von Fukushima bis Tschernobyl und von Wiederaufbereitungsanlagen bis zu Endlagern: AKWs versichert niemand, und was sich nicht versichern lässt, ist nicht zu verantworten. Punkt.

Ehrgeiz und Heldenverehrung

Sport medial respektlos

Nehmen wir die Heldenverehrung: Mein Vater und viele andere Sportstypen in Adelboden, wo ich aufgewachsen bin, haben das nicht verstanden, waren teils völlig verständnislos, teils sogar wütend – dass ich mich nicht besonders bemühte, meine ausserordentlichen Bewegungstalente umzumünzen in Titel, ein Sportheld zu werden und mehr zu gewinnen.
Wohlgemerkt, ich habe oft und früh gewonnen – und es war mir rasch unangenehm: Wer gewinnt, lässt Verlierer hinter sich, und ich verabscheute die unguten Gefühle, die sich nicht verbergen konnten hinter den guten Mienen zu meinem starken Spiel.
Da mein Ehrgeiz überdies schon immer bescheiden gewesen war, begnügte ich mich bald mit Spielen: wurde aus der Schweizerischen Studentenskinationalmannschaft geworfen, weil ich ein Konzert mit unserer Band im Hirschen Einigen einem FIS-Slalom in Leukerbad vorzog, hatte aber auch in der Musik keinen Erfolg, weil meine Resultate entweder zu wenig gut waren oder mein Ehrgeiz auch hier zu klein.
Jedenfalls diente ich den Adelbodner Sportstypen als abschreckendes Beispiel, ein langjähriger Trainer warf mir gar einmal an den Kopf, ich sei ein Versager – und ich wusste ganz lange nicht, was er meinte. Inzwischen glaube ich es zu wissen: dass ich mein Gewinnerpotenzial nicht ausschöpfte. Mein Vater erkannte und anerkannte spät meine Motive; dem ehrgeizigen Trainer, der mich Versager nannte und auf ein ziemlich vermurkstes Leben blicken muss, dürften sich diese Motive nie erschliessen.

Es reiche im Leben nicht, nett zu sein, sagte mir mein Vater einmal. Ich meine, ein Gegenteil ist richtig: Möchte jemand ernsthaft bestreiten, dass die Erde besser aufgestellt wäre, wenn wir weniger ehrgeizige Winnertypen mit Killerinstinkt hätten und stattdessen mehr nette Gutmenschen.
Insofern ist unsere Heldenverehrung ein hirnrissiger Irrsinn, und es soll niemand daherkommen und von Leistungsdenken und Leadership plappern: Das ist dummes Männergeschwätz, nicht nur widerlegt von der Entwicklungsgeschichte, sondern einfach offensichtlich – zum Beispiel in jeder Schulklasse; es kommt ja nicht von ungefähr, dass wir unsere Kinder sozialisieren, sonst können wir die Jungs gleich in die „Infanterie“ schicken, worin die „Enfants“ stecken.

Landwirtschaft

Nehmen wir die Landwirtschaft: Als Unterstufenschüler lebte ich ein paar Jahre im „Chräuwel“, einem der ältesten Adelbodner Bauernhäuser. Die Kammer, die ich mit meinem kleinen Bruder teilte, grenzte gleich an den Stall; immer noch mag ich den Geruch von frischem Mist und Kühen, immer noch habe ich das Ranggen des Viehs hinter der Wand in den Ohren – das ist wohl so etwas wie Heimat.
Ich war klein, durfte manchmal helfen beim Hirten und Heuen: Vor der Arbeit der Bauern hatte und habe ich grössten Respekt. Aber ich wusste jahrelang nicht, in welchen Irrsinn die Landwirtschaft eingebaut ist – und ich gehe davon aus, dass die Leute in der Landwirtschaft den Irrsinn zwar erahnen, aber nicht viel davon wissen: Mann muss Lust haben auf Bücher und Zeit zu lesen – Gotthelf namentlich mit der Käserei in der Vehfreude sowie Geld und Geist hat mir da sehr gedient, aber unter anderem auch die Branche selbst mir ihrem Buch „Milch für alle„.
Aus Schweizer Sicht hat der Irrsinn wohl begonnen mit den Techniken des Pasteurisieren und des Kühlens im 19. Jahrhundert. Damit war nicht nur der über Jahrtausende entwickelte Kreislauf optimaler Nutzung von Ressourcen hinfällig: dem Menschen das Gras steiler und hoher Matten erschliessen und in Milchprodukte und Fleisch und Leder und Leim und so weiter verwandeln. Hinfällig war auch das gute Geschäft des Käsens: Jedes anständige Segelschiff, das in der Neuzeit über die Weltmeere fuhr, hatte Käselaibe an Bord, auch das erledigte sich im 19. Jahrhundert.
Anfang des 20. Jahrhunderts, genauer im Ersten Weltkrieg, griff der Bundesrat schliesslich ein und begann, die Landwirtschaft zu verstaatlichen. Inzwischen sind die Landwirtinnen und Landwirte letztlich nicht nur Staatsangestellte, sondern müssen auch Geschäftsmodelle verfolgen, die nichts mit vernünftiger Landwirtschaft zu tun haben, aber sehr viel mit gigantischen Fehlallokationen: Meliorationsstrassen und Ställe bauen, Melkroboter und Traktoren verkaufen, Milchschwemmen, Butterberge und Verarbeiter managen oder in den Konkurs treiben, Stilllegungsbeiträge und Direktzahlungen ausrichten – es ist wirklich der reine Wahn; wir wissen es, sehen aber keine Auswege und fahren weiter.

Dringend Frauen an die Macht

Entwicklungsgeschichtlich verdichten sich die Anzeichen, dass die Menschheit insgesamt seit gut 10’000 Jahren einen gewalttätigen, patriarchalen Kurs fährt, der jedoch erst in den letzten 100 Jahren eine globale, selbstzerstörerische Dimension angenommen hat. Mithin haben wir sozusagen unserem Schimpansen-Gen den Vorrang gegeben und sehen zu, wie gewalttätige Helden systematisch die Sau rauslassen.
Nach Lage der Dinge hat es indessen nach einer ungeklärten Katastrophe vor etwa 70’000 Jahren viele zehntausend Jahre gegeben, während denen sozusagen die Bonobo-Gene die Oberhand hatten – friedliche, kooperative, oft matriarchale Gesellschaften: goldene Zeitalter, Paradiese, eingebrannt in die kollektive Erinnerung und seit rund 2000 Jahren religiös perveriert vom Patriarchat.
Insofern ist doch irgendwie klar, was wirklich Not tut: Frauen an die Macht.

1 Kommentar

  1. Wir Menschenfeinde. Das wichtigste Organ des Menschen ist das Herz – nicht das Hirn.
    Der wichtigste Körperteil ist nicht die gespaltene Zunge, sondern das Rückgrat.
    Und man kann nicht gleichzeitig Slalom fahren und Gitarre spielen. Vielleicht in Österreich, aber nicht in der Schweiz. Hier muss man sich entscheiden, was man will. Gewinnen oder verlieren. Pyramiden oder Spielplätze. Deshalb gibt es nur eine Devise: Nett bleiben!

Kommentar verfassen