Systemisch Verwahrloste

Kaktus umarmen

Ich liebe diese Menschen, auch und gerade die Verwahrlosten: Etwa ein Drittel meiner Klasse halte ich für verwahrlost, und zwar im ursprünglichen Sinn des Wortes. Zum ersten Mal taucht der Begriff um 1500 auf, wie das wunderbare Wörterbuch der Gebrüder Grimm nachweist. Es gehe um „Vernachlässigung durch Mangel an Pflege, Sorgfalt, Interesse“, erläutert das Wörterbuch und zitiert aus dem „Feldbuch der Wundarznei“ des Arztes Hans von Gersdorff, erschienen 1517 in Strassburg: „das du es nitt übersehest und zu groszem verwyssen komest und dem krancken ursach gebest durch verwarloszung“.

Vernachlässigte

In meiner Klasse in diesem Touristenort im Berner Oberland sitzt letztlich nur ein Schulkind, dessen Eltern beide mit Schweizerdeutsch als Muttersprache aufgewachsen sind – und diese Eltern sind inzwischen getrennt. Die grosse Mehrheit der Schulkinder meiner Klasse hat sogenannten „Migrationshintergrund“: mittlerweile weitgehend abwesende Väter und mithin weitgehend allein erziehende Mütter, die aus dem Ausland angezogen wurden von der Arbeit in den Schweizer Niedriglohnbranchen, die unvermeidlich zum Tourismus gehören: Gastgewerbe, Baugewerbe, Verkauf; kochen, putzen, aufräumen, aufbauen.
Wie wollten diese Eltern ihre Kinder nicht vernachlässigen nach den Massstäben des Bildungsbürgertums? Es gilt mit kleinen Löhnen Rechnungen zu bezahlen, die Lieben in der alten Heimat nicht zu vergesssen, als Alleinerziehende durchzukommen!

Migrationshintergrund

Wer im Land einer Fremdsprache lebt, muss entwurzelt sein. Ich habe vereinzelt mit Schulkindern zu tun, die überhaupt keine Sprache mehr haben, und zwar im ursprünglichen Sinn: Diese Kinder haben Zeitfenster verpasst, in denen das heranwachsende Hirn offen ist für entscheidende sprachliche Entwicklungen. Letzthin ist mir in einem Treppenhaus eine strahlende, tigrinische Frau begegnet, die ihr etwa dreijähriges Kind bei sich hatte und mit ihm sprach – in radebrechendem Schweizerdeutsch.
Ich ging vor der Frau beinahe auf die Knie in Augenhöhe zu ihrem kleinen Mädchen und bat die Mutter inständig, mit ihrem Kind ihre Muttersprache zu sprechen.
Ein Teil meiner Kinder kann sich beim besten Willen nicht Deutsch und deutlich ausdrücken – was wunder, wenn sie Hände und Füsse und Fäuste zu Hilfe nehmen, denn wir Menschen wollen und müssen wirken.

Bildungsferne

Eine gute Freundin unserer Familie, die aus dem Jura stammt und Französisch spricht, lernte im arabischen Raum einen jungen Kampfpiloten kennen und lieben. Er wurde wegen dieser Liebe aus der Armee entlassen und machte den Haushalt, sie haben zwei wunderbare, mittlerweile praktisch erwachsene Söhne: mit ihrer Mutter sprechen sie Französisch, mit dem Vater Arabisch, mit den Eltern, die sich in Englisch unterhalten, können sie es auch in Englisch – und weil sie im arabischen Raum eine deutsche Schule besuchten, sprechen sie ein besseres Deutsch als ich.
Beide Jungs haben akademische Wege eingeschlagen, es ist ein Gegenteil von Bildungsferne, obschon das Elternhaus nicht akademisch ist. Die Eltern hatten schlicht Zeit für ihre Kinder – jene Zeit, welche die Elternteile meiner Kinder einfach nicht haben.

Interesselosigkeit

Die erdrückende Mehrheit der Familien meiner Klasse ist sogenannt „prekarisiert“, die Verhältnisse zuhause sind prekär in vielerlei Hinsicht: Fast überall müssen alle Erwachsenen einer Erwerbsarbeit nachgehen, vielerorts fehlt ein Elternteil, ein Grossteil muss alleine aufstehen und isst kein Frühstück, gelesen wird zuhause nicht, eine Tageszeitung hat niemand, Bücher sind so selten wie herausragend didaktisierte Smartphones und Games häufig – nur dieser eine Anflug von Kulturkampf in diesem Text.
So sehr ich mit Albert Bitzius auch stolz bin auf die Volksschule hierzulande, so sehr ich auch plagiere vor meiner Klasse mit Blick auf schulische Verhältnisse andernorts: Die Struktur unserer Volkschule sieht stillschweigend vor, dass am Morgen womöglich eine Mutter die Kinder weckt und mit ihnen frühstückt, dass sie am Mittag zuhause am Herd steht, den Tisch deckt und ihn gegen Abend abräumt, um den Schulkindern bei den Hausaufgaben zu helfen.

Mangelnde Pflege

Ich liebe diese Kinder, und sie wissen es. Ich werde oft wütend und laut, wenn sie etwas tun, das ihnen selbst oder anderen schadet. „Das ist ein Arschloch“, sagte letzthin eine Lehrkraft im Kollegiumszimmer über einen Schüler. Mein Hals wurde ganz trocken; ich hätte es sagen sollen: dass wir Menschen alle bisweilen Dinge tun, die aus diesem oder jenem Grund in dieser oder jener Hinsicht schädlich sind; dass wir alle ein Äffchen mit Unsinn im Kopf haben und manchmal die Sau rauslassen müssen. Aber ich sagte nichts, schluckte nur leer und werde diese Szene meinen Lebtag nicht mehr vergessen.
Es ist nicht nur pädagogisch eine Dummheit zu sagen, wie jemand ist: ein Arschloch zum Beispiel.
Meine Schulkinder wissen das: Weil ich pädagogisch und didaktisch geschult bin und die Menschen ohnehin gern habe, habe ich nie jemand das Gesicht verlieren lassen, nie jemand blossgestellt, versuche immer allen auf Augenhöhe zu begegnen – aber muss fast an jedem verdammten Tag fast ausschliesslich Burschen darum bitten, das Äffchen im Kopf im Griff zu haben und die Sau nur im Rahmen von Ritualen rauszulassen.

Intelligenz

Ich kann mit meiner Klasse auf höchstem Niveau diskutieren, die Menschen sind unglaublich intelligent: Wir haben in der Klasse immer wieder darüber gesprochen, dass die Sau manchmal raus muss und der Sport ein lebenswichtiger Orte ist, um die Sau rauszulassen. Wir haben über Hormonschübe gesprochen im Mutterbauch oder in der Pubertät – und leichthin über sexuelle Orientierungen und Geschlechteridentitäten – und darüber, dass und warum man einander manchmal wirklich nicht riechen kann: Heranwachsende haben dafür ein gutes Gespür und vollstes Verständnis.
Über Geld als Abbild von Leistung haben wir gesprochen und dazu Lernkontrollen gemacht, wir haben die Arbeit behandelt und das Kapital, mit dem Geld gemacht werden kann – und einer kam dabei darauf, dass also auch Menschen Kapital werden könnten, vor allem als Sklaven.
Manchmal läuft es mir kalt den Rücken hinunter: diese grossartigen Menschen, denen das Leben schon in jungen Jahren schon so viele Chancen vorenthalten hat, ihr Potenzial zu entwickeln – ich muss schon wieder heulen.

Am Ende

Grossvater Grunder war als Sohn eines Verdingbuben in der Volksschule zu Oberdiessbach um 1900 von einem Lehrer erniedrigt worden – zum Trotz wurde er Lehrer und Linker, war Offizier in zwei Weltkriegen und stand um 1940 auf den Todeslisten der hiesigen Nazis.
Mein Vater wurde auch Lehrer und Linker, ein Arbeitsleben lang unterrichtete er an der Sekundarschule in Adelboden, einem der am weitesten rechts liegenden Orte der Schweiz – so viel zum grundsätzlichen Einfluss einer Lehrkraft.
Weil ich die ebenso ontologischen wie evidenten Defizite meiner Klasse nur ansatzweise ausgleichen kann und schon das enorm viel Energie kostet, werde ich meine Stelle als Klassenlehrer kündigen. Ich werde aufhören, sobald meine Klasse die Schulpflicht im kommenden Sommer beendet haben wird – und nach Lage der Dinge alle Jugendlichen einen Weg vor sich haben, den ich mitverantworten kann.
Wie für den Strassburger Arzt aus dem frühen 16. Jahrhundert ist auch für mich die Verwahrlosung nicht zu übersehen; ich habe hin und her gewerweisst und mich bemüht, keine zusätzlichen Ursachen für Schaden zu schaffen: Nochmals eine Klasse von weitgehend verwahrlosten Jugendlichen zu übernehmen und sie in drei Jahren an den Start des Erwerbslebens zu führen, traue ich mir nicht zu – ich habe schlicht zu wenig Kraft.

NB

Unsere Volksschule ist samt PH und Bildungsdirektion eine tagtägliche Zumutung und eine Farce. Aber wir haben keine andere, und ich weiss keine bessere – neuer Hauptsatz, also Komma.

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