Pädagogik statt PR und Politik

Kaktus umarmen

Wir Menschen haben Mühe: miteinander und mit uns selbst. Mit unseren eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten, mit unseren unsäglichen Gedanken und unseren vielen anderen Schwächen; mit unseren Eltern und Geschwistern, mit Bekannten und Fremden, mit Kollegen und Nachbarinnen.

Weil es angenehmer ist, einigermassen miteinander auszukommen, bemühen wir uns aber in der Regel um ein gewisses Mass an Unaufrichtigkeit, das wir Höflichkeit nennen: Wir schlagen einander die vermeintlichen Schwächen nicht um die Ohren; wir versuchen, einigermassen nett zu sein zueinander – und zu uns selbst.

Unvermeidliche Schwächen

Täten wir das nicht, wäre uns das Leben unerträglich, und tun wir das nicht, wird uns das Leben wirklich unerträglich: Wir bringen uns selbst oder gegenseitig um – wegen unserer vermeintlichen Schwächen.
Zwar geschieht ständig und millionenfach, dass wir uns selbst oder andere umbringen. Aber eigentlich sind das Störungen: Die meisten von uns sind lieber nett zueinander, weil es uns unangenehm ist, anderen etwas anzutun, das sie einem selbst antun könnten.

Im Deutschen machen wir uns darauf gleich mehrfach einen Reim: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu; willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu anderer Glück, denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück.
Das reimt sich auch auf uns selbst: Wir sind auch zu uns selbst meist nett, und wir haben auch gute Gründe dafür – und zwar ganz abgesehen davon, dass wir alle einzigartig sind auf der Welt und nur eine kurze Weile hierbleiben können.

Das Leben ist schön, wir haben unsere schönen Seiten, und nicht selten geschieht es, dass andere diese unseren schönen Seiten nicht nur aus Höflichkeit wahrnehmen und würdigen, sondern aufrichtig: Lebensfreude, Lebenslust, Liebe.
Viele tausend Jahre predigen wir uns diese Liebe – und bringen uns gegenseitig dafür um.

Emotion klar, Ware auch.

Wir werden es auch künftig nie und nimmer schaffen, alles in Liebe und Freude zu tun, weil die Menschen für Störungen anfällig sind und das Leben schrecklich und ungerecht sein kann.
Aber weil wir besser miteinander verbunden sind als jemals in der Menschheitsgeschichte, und weil wir auf dieser kleinen Erde besser denn je um unsere Verletzlichkeiten und Schwächen wissen, können wir es inzwischen entscheidend besser machen.

Damit sich die Menschen entfalten können

Nachfolgend drei einfache Tipps dazu, die vor allem aus der Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen kommen, die Unterstützung darin brauchen, ihre Fähigkeiten zu Fertigkeiten zu entwickeln.
Fähigkeiten sind das, was in uns angelegt ist und wir zu Fertigkeiten entwickeln (wenn denn da nicht Störungen sind, die es im Leben einfach immer wieder gibt): Das Gehen und das Sprechen etwa sind als Fähigkeiten in uns angelegt. Wir entwickeln sie praktisch alle zu ziemlicher Fertigkeit, werden aber nur vereinzelt Sprinterinnen oder Redner oder Sängerinnen oder Bergsteiger.

Das Bemühen, Menschen darin zu unterstützen, ihre Fähigkeiten zu erkennen und zu Fertigkeiten zu entwickeln, nennt sich Pädagogik und ist sozusagen so alt wie das Leben.
Praktisch jede Mutter (wenn denn da nicht Störungen sind, die es im Leben einfach immer wieder gibt) handelt pädagogisch; das scheint in Eltern als Fähigkeit angelegt und sozusagen von Natur aus mehr oder weniger zur Fertigkeit entwickelt: Auf wundersame Weise, die sich den Menschen nicht wirklich erschliesst, will das Leben weitergehen; und damit es weitergehen kann, muss da Nachwuchs sein, der dank der Eltern und des ganzen globalen Dorfes, das Kinder erzieht, seine Fähigkeiten zu Fertigkeiten entwickeln kann, das Leben damit bewältigt und weitergibt.

Emotion klar, Ware auch.

Nie Menschen kritisieren, immer Zustände und Verhalten

Die Pädagogik liebevoller und bewusster Eltern ist denn auch die Grundlage des ersten Tipps: Weil wir um die Schwächen der Menschen wissen und sie für diese Schwächen, für die sie meist nur wenig können, nicht blossstellen wollen, kritisieren wir niemals die Menschen, sondern immer nur ihre Handlungen und die Zustände, die sie mit diesen Handlungen anrichten.

Wir achten und respektieren also das Gegenüber grundsätzlich ebenso, wie wir uns selbst achten und anerkennen. Und wenn wir werden wie die Kinder, denken wir vielleicht gar nicht einmal mehr daran, uns oder die anderen als Menschen überhaupt grundsätzlich infrage zu stellen: weil es selbstverständlich ist, uns und die anderen als Menschen und als Persönlichkeiten ernst- und für voll zu nehmen und anzuerkennen.

Aber weil wir erwachsen sind, weil wir unser Bewusstsein entwickelt haben und dafür sorgen müssen, dass die Menschen ihre Fertigkeiten entwickeln, ohne sich selbst, die anderen oder die Erde zu bedrohen, reicht es nicht, einander als Persönlichkeiten anzuerkennen: Es ist eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzung. Denn wenn wir Mist machen, müssen wir unbedingt darauf hinweisen.

Der erste Tipp lautet also, die Persönlichkeiten der Menschen niemals infrage zu stellen, sie aber immer und immer wieder für ihre Handlungen, für ihr Verhalten und die Zustände zu kritisieren – genauso, wie wir es in der Pädagogik und mit Kindern tun: Ich achte und ich liebe dich als Mensch und einzigartige Persönlichkeit. Aber was du da tust, ist aus diesen und jenen Gründen fragwürdig – nicht du bist ein Idiot, aber dieses Verhalten ist deshalb idiotisch.

Dieser pädagogische Ansatz wirkt wahre Wunder, und er ist heilsam – was eigentlich nicht erstaunt: Wir wissen ja um unsere Schwächen, und wir mögen es nicht, wenn mit den Fingern auf diese Schwächen gezeigt wird und wir blöd dastehen.
Gleichzeitig mögen wir es, wenn wir in etwas besser werden, wenn wir also unsere Fertigkeiten entwickeln, aus Fehlern lernen und dafür Anerkennung ernten: also Fortschritte, Verbesserungsmöglichkeiten und Fehlverhalten umfassend klarmachen, ohne die Persönlichkeiten infrage zu stellen – halt wie eine gute Mutter, eine gute Lehrerin oder ein guter Trainer.

Um solche Zusammenhänge wissen wir zwar schon lange, und dass wir Mühe damit haben, sie zu sehen und uns danach zu richten, ist auch keine Neuigkeit.
Weniger bekannt sind aber die Gründe für unser ständiges Scheitern. Auf zwei folgenschwere Ursachen sei hingewiesen: Politik und PR.

Emotion klar, Produkt auch.

Politik und PR als Querschläger

Politik und PR wollen und müssen nämlich die Menschen für sich gewinnen, doch geht es dabei nicht darum, dass ein Mensch einen anderen für sich gewinnt: eine Mutter ihr Kind, eine Liebende ihren Geliebten, eine Lehrerin ihre Schüler.

Vielmehr wollen Politik und PR die Menschen für eine bestimmte Haltung oder ein bestimmtes Verhalten gewinnen: eine bestimmte Wahl zu treffen, etwas Bestimmtes zu kaufen, etwas Bestimmtes zu glauben.
Damit die Menschen sich für etwas Bestimmtes entscheiden, sind der PR und der Politik alle Mittel recht – der Zweck heiligt die Mittel, und wenn es um viel geht, wird auch viel eingesetzt und gnadenlos über Leichen gegangen.

Weil das einfachste und beste Mittel, Menschen zu gewinnen, mithin nicht das Argument ist, sondern die Emotion, verhalten sich PR- und Politstrategen entsprechend – vorab McLuhan und Lippman haben dazu längst plausible Theorie und Praxis geliefert, Nietzsche wiederum dürfte der wichtigste Philosoph in derlei Angelegenheiten gewesen sein, Goethe und Shakespeare schliesslich im abendländischen Denken die entsprechenden Poeten.

Zu verlangen, Politik und PR sollten auf das Ansprechen von Emotionen verzichten, wäre nicht nur billig, sondern grotesk – ähnlich der Forderung, Kunstschaffende sollten keine Emotionen wecken, oder die Menschen sollen edel sein und gut: Den neuen Menschen an sich kann es nicht geben, freilich ist da mit jedem neuen Leben wirklich ein neuer Mensch – das genügt doch wirklich.

Und gerade weil Politik und PR auf das Auslösen von Emotionen nicht verzichten können, landen wir wieder beim ersten Tipp: nie und nimmer Kritik an persönlicher Befindlichkeit und individuellem Zustand, aber immer und immer wieder Kritik an Handlungen und Verhalten!

Moral als private Angelegenheit

Der zweite Tipp hängt unmittelbar mit dem ersten zusammen und lautet, dass Moral eine private Angelegenheit sein solle.
In freiheitlichen Gesellschaften haben wir uns daran gewöhnt, dass dieser Tipp hinsichtlich der religiösen Moral schon länger Brauch oder gar Gesetz ist – in angelsächsischen Clubs sind Religion und Politik traditionellerweise vielerorts tabu, und freiheitliche Staaten trennen wohlweislich Kirche und Staat. Auch was sexuelle Moral samt ihren Orientierungen angeht, kommen wir langsam dahin, sie als persönliche Angelegenheit anzuerkennen und nicht zu verallgemeinern oder gar zu verurteilen.

Selbstverständlich kann jede Moral nur so weit persönlich sein, als sie nicht andere Menschen persönlich herabsetzt oder angreift: Hier gilt dasselbe wie bei der persönlichen Freiheit, die dort aufhört, wo die Freiheit der anderen beginnt – und dort braucht es Recht und Gesetz als verallgemeinerte, demokratisch legitimierte Moral.

Der zweite Tipp geht aber weiter, er ähnelt etwas dem Abstimmungsgeheimnis, das besagt, politische Meinungen und Urteile seien privat: Der Tipp lautet, jegliche Moral mit ihrem Urteilen über Gut und Böse rigoros als persönliche Angelegenheit anzusehen, nicht zu verallgemeinern und nur dann zur öffentlichen, will sagen gesetzlichen Sache zu machen, wenn Menschen von Moralaposteln als Personen herabgesetzt werden.

Wer den ersten Tipp vom Verzicht auf persönliche Kritik befolgt, dürfte sich zwar automatisch auch an den zweiten Tipp halten und auf Kritik an persönlicher Moral verzichten, gehe es nun um religiöse, politische, sexuelle, vereinsmässige oder welche Vorlieben auch immer.

Emotion klar, Produkt auch.

Aber Diskussionen um Moral gibt es eben nicht nur, ja nicht einmal vor allem im persönlichen Kontakt und Bereich: Ein Grossteil moralischer Auseinandersetzungen sind vielmehr öffentlicher Art und hängen meist eng mit Politik und PR zusammen.
Das liegt auf der Hand, denn zum einen ist Moral mit Emotionen verbunden, und zum anderen findet die meisten Auseinandersetzungen zwischen Menschen just in den Grenzbereichen statt, wo die Freiheit oder Moral der einen Menschen auf die Freiheit oder Moral anderer Menschen trifft – und das auszugleichen, ist Politik.

Hier den zweiten Tipp zu befolgen und jegliche Moral als privat zu respektieren, wirkt ebenfalls Wunder und ist umso drängender, als die aktuellen Identitätsdebatten etwa im Gender- oder Hautfarbenbereich, die zurzeit in Blockaden und vielfacher Zerfleischung münden, dank dem Tipp auf eine andere Ebene kommen. Die Auseinandersetzungen lösen sich in der heutigen persönlichen oder ideologischen Art förmlich auf und erreichen jenes allgemeine Niveau, auf dem politische Problemstellungen in Demokratien gelöst werden: sachlich, argumentativ, mit langsamem Denken und unter besonderer Berücksichtigung benachteiligter Minderheiten.

Benachteiligte Minderheiten privilegieren

Womit wie beim dritten und letzten Tipp wären: die strukturelle Bevorteilung von benachteiligten Minderheiten, wie sie die Schweiz seit Jahrhunderten eher widerwillig und unbewusst, aber ausserordentlich erfolgreich pflegt und wie sie namentlich im Bereich körperlicher Beeinträchtigungen teilweise völlig unbestritten ist. Wenn wir unsere Randsteine absenken, damit Rollstühle einfacher passieren können, wenn öffentliche Bauten hindernisfrei sein müssen oder plastische Markierungen am Boden Sehbehinderten dienen, bevorteilen wir benachteiligte Minderheiten strukturell – und mit grosser Selbstverständlichkeit.

Beim Ständemehr, im Ständerat, beim Lastenausgleich oder bei anderen, historisch gewachsenen Bevorteilungen von Minderheiten öffnen sich zwar die oben erwähnten umstrittenen Felder von Freiheiten, die diese und jene meinen und beanspruchen.
Aber politisch, geschweige denn pädagogisch bestreitet grundsätzlich niemand ernsthaft, dass die Rücksichtnahme auf Minderheiten und auf Schwache dem Ganzen dient, ohne die Einzelnen über Gebühr zu belasten. Dies zumal nicht nur die Praxis der Schweiz, sondern auch wissenschaftliche Erkenntnisse etwa der Spieltheorie oder vitaler Systeme Sinn und Wert von Rücksichtnahme (und von Kooperation) stützen.

Emotion klar, Produkt auch.

Einfache Tipps, schwierig zu befolgen

Die drei Tipps sind einfach: Benachteiligte privilegieren, niemand attackieren und die Moral Privatsache sein lassen. Die Tipps durchwegs zu befolgen, ist jedoch schwierig, ja letztlich unmöglich. Für uns als individuelle vitale Systeme, die überleben wollen, sind nämlich Emotionen lebensnotwendig: Die ist mir sympathisch, den kann ich nicht riechen – beides sind fürs persönliche Wohlergehen nützliche, im vorliegenden politischen Zusammenhang jedoch schädliche Urteile.

Aber Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung: Und einzusehen, dass wir schnell denkende Wesen voller Vorurteile und Ressentiments sind, ja sein müssen, ist nicht nur unverzichtbar, sondern auch naheliegend und wissenschaftlich ziemlich gut belegt.

Insofern ist es unverzichtbar zu akzeptieren, dass wir alle immer wieder nicht nur Vorurteile entwickeln und pflegen, unsachliche Urteile fällen und Menschen verurteilen, sondern auch unsere moralischen Prinzipen auf andere übertragen, sie von ihnen erwarten und uns nicht zuletzt durchsetzen wollen (vom unsäglichen Reiz von Siegen, Wettbewerb und Leistung hier nur in Klammern).

Wenn wir langsam und sachlich denken, wissen wir zwar um diese unsere Schwächen (und wir wissen auch, dass all die faszinierenden, aber krankhaft ehrgeizigen Siegertypen als gesellschaftliche Vorbilder nicht taugen).

Aber umworben und eingelullt von unseren Emotionen, welche PR- und Politstrategen auf allen Kanälen permanent hegen und pflegen, sitzen wir uns seit Menschengedenken immer wieder selbst auf, glauben immer wieder wahlweise an den neuen Menschen oder Heilsbringer – und wählen auch immer wieder solche Typen zu unfehlbaren Führern.

Insofern taugen die Tipps hier im Alltag eher als Massstäbe denn als Vorschriften – wir fordern sie nicht ein, sondern prüfen, ob sie eingehalten werden.
Die Ernsthaftigkeit und Menschenfreundlichkeit von Politik und PR liesse sich wie jene der Menschen daran messen: benachteiligte Minderheiten privilegiert? Moral als persönliche Angelegenheit respektiert? Niemals Menschen kritisiert, aber immer Handlungen und Zustände?

Wer die Massstäbe anlegt, wird sich wundern, wie häufig das Gegenteil praktiziert wird: Mehrheiten und bevorteilte Minderheiten privilegieren, Moralvorstellungen öffentlich propagieren und durchsetzen, Menschen verunglimpfen.

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