Zufällig ein guter Staat

Falls die aktuelle Wissenschaft richtig liegt, ist Staatlichkeit im modernen Sinn mit gewalttätigen Männern entstanden und verbunden: In fruchtbaren Fluss- und Mündungslandschaften, wo eine zunehmend sesshafte Bevölkerung mehr oder weniger systematisch Ackerbau betrieb, begannen Gangs à la Gilgamesch vor weniger als 10’000 Jahren, Mehrwert abzuschöpfen – Schutzgeld als Zehnte, Vorschriften zum Anbau, Organisation, Religion.

Stele von Hammurapi, im Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris geklaut und im Pariser Louvre ausgestellt: rund 4000 Jahre alte Vorschriften samt Huldigung der Verantwortlichen.

Die weitum feindselige Haltung der Menschen gegenüber dem Staat, die ich lange nicht nachvollziehen konnte, vewundert insofern nicht: Damals wie heute ist ein Grossteil der Staaten nicht hilfsbereiter Dienstleister ihrer Bevölkerung, sondern wahlweise korrupte oder kriminelle Organisationen mit ein paar untergeordneten sozialen oder karitativen Betriebszweigen.

Märchen werden wahr

Zwei systemische Ausnahmen:

  • Nach dem 2. Weltkrieg scheint die Menschheit so erschreckt gewesen zu sein, dass mit der Erklärung der Menschenrechte sowie den Vereinten Nationen eine schriftliche Zusicherung sowie eine Organisation von ausserordentlicher Güte entstehen konnten. Realität waren damit jene Märchen, die mächtige Männer wohl seit der griechischen Demokratie oder der römischen Republik erzählen lassen, um ihre menschenfeindlichen Staatsapparate leidlich mit einem menschenfreundlichen Mantel zu kaschieren.
    Was seit etwa 1950 in der Welt ist, lässt sich beim schlechtesten Willen nicht rückgängig machen; entsprechend erzählen selbst so offen menschenverachtende Männer wie Putin oder Trump immer noch das Märchen von Freiheit und Demokratie – und wir können sie beim Wort nehmen.
  • Vor rund 1000 Jahren mussten Menschen, die angesichts der Bevölkerungszunahme im Flachland rundum die Alpen nicht mehr zu ernähren waren, in die Berge ausweichen. „Den Ersten den Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot“, machte sich der deutschsprachige Volksmund einen dramatischen, drei Generationen übergreifenden Reim darauf. Geografisch und historisch weit von den reichen Flusslandschaften des Neolithikums entfernt, galt es neue Lebensgrundlagen zu schaffen: Weide-, Vieh- und Alpwirtschaft; die Verwandlung von Gras und Holz zu menschlichem Nutzen.
    An solch abgelegenem und prekären Mehrwert hatte keine Gang grosses Interesse, und auch den lukrativen Weg durch die Alpen konnten bis hin zu den Habsburgern keine Gangsterbanden erschliessen, sondern nur wegkundige und trittsichere Bergler in kleineren Gruppen.
    Während mithin Hofer im Tirol das Pech hatte, der Obrigkeit am breiten Brenner zu trotzen, wo eine Armee ohne weiteres durchmarschieren und wüten konnte, waren die Guerillas der Eidgenossen an den unwegsamen schweizerischen Alpenpässe schlicht nicht umfassend zu packen.

Schweiz: zufälliger Glücksfall

Brücke über die Schöllenen, Ursprung der Schweiz und Gegenteil der fruchtbaren, weiten Mündungsgebiete, in denen klassische Staatlichkeit entstand.

Zwar ist die Schweiz inzwischen längst ein zentrales Büro sowie ein malerischer Rückzugs- und Ruheort für staatliche und private Gangster aus der ganzen Welt. Und die gewalttätigen Gangster, die sich ab dem hohen Mittelalter von Zürich über Bern bis nach Genf in Staatstaaten zusammenrotteten, griffen sich mit den Jahrzehnten auch die Alpentäler. Die ehrenwerten Herrschaften zwangen der Bergbevölkerung den Zehnten sowie Fron- und Kriegsdienste auf und standen ihren adeligen Spiessgesellen in nichts nach – im Emmentaler Bauernführer Niklaus Leuenberger hatte der Tiroler Andreas Hofer eine Art Wiedergänger.

Erst 1971 liessen sich die Schweizer Männer dazu herab, auch den Frauen das Stimm- und Wahlrecht zu geben – gegen den Willen der Alten Eidgenossen in Uri, Schwyz, Obwalden, Glarus, St. Gallen und Appenzell.

Märchen von Freiheit und Demokratie erzählten die Herren der Alten Eidgenossenschaft noch keine, das gemeine Volk galt der Obrigkeit ohnehin nichts, die Frauen waren gar bis ins späte 20. Jahrundert keine vollwertigen Menschen. Aber manche Bergler hatten schon früh besonderen Wert: Einerseits war es praktisch unmöglich, mit grösseren Gangsterbanden und ohne Hilfe von sachkundigen Individuen über die Alpen zu kommen. Und andererseits entwickelten sich Rindvieh und Käse spätestens in der Neuzeit zu gesuchten Produkten. Hartkäse war auf allen Segelschiffen nach Übersee gefragt, Vieh wurde bis auf Märkte in Strassburg oder München getrieben und verkauft.

Staatlichkeit von Natur aus

Zwar zeigte die Obrigkeit bei Gelegenheit brutal und menschenverachtend wie eh und je, wo Gott hockt und wer das Sagen hat. Aber vom Berner Oberland bis ins Engadin war das gemeine Volk zum einen als Hirt und Transporteur unverzichtbar, und zum anderen brachte die Besiedlung der Alpen vor Ort eine ganz eigen- und einzigartige Staatlichkeit mit sich:

  • Die Alpweiden oberhalb der Waldgrenze wurden sozusagen mit ihrer Erschliessung gemeinschaftlich bewirtschaftet – tausendjährige und ältere Alpgenossenschaften sind mithin keine Seltenheit, es hat sie nach Lage der Dinge schon vor einer Verschriftlichung gegeben. Die gemeinsame Nutzung war dabei nicht sozial, sondern folgerichtig: Während talwärts von Schwanden bis Reutigen mühsam im Familienverband gerodet und ums Überleben gekämpft werden musste, war auf den Alpweiden genug Platz für alle – und für alles Vieh.
  • Die kurze Vegetationszeit mit einem etwa sechs Monate dauernden, kalten Winter zwang die Menschen zu Organisation und Administration: Wer keine Vorräte anlegen und sich nicht durchs Winterhalbjahr organisieren konnte, hatte keine Überlebenschance – die Fastenzeit ab Februar hat hier ihren Ursprung.

Alpweiden über der Baumgrenze: Ursprung des Staatlichen in der Schweiz und noch ein Gegenteil zu den klassischen staatlichen Anfängen in fruchtbareren Landschaften.

Beide Faktoren haben staatliche Funktion bis heute und in allen Staaten. Doch in der Schweiz sind diese beiden Funktionen unter dem Zwang der Natur entstanden – und nicht wie weitum üblich unter dem Druck von zunehmend grösseren und wirkmächtigeren Gangsterbanden.
Das ist ein geografischer und historischer Zufall: Die Menschen sind überall gleich verschieden, und es gibt so wenig bessere und schlechtere Nationen wie bessere Blauäugige und schlechtere Braunäugige.
Die Schweizer Bevölkerung hat insofern überhaupt keinen Grund, besonders stolz auf ihren Staat zu sein – und die Menschen in all den gescheiterten Staaten weltweit haben keinen Grund, sich zu schämen.

Falls die gewalttätigen staatlichen Gangsterbanden von Iran über Indien bis nach Venezuela jedoch überhaupt Räume offen lassen, kann es sich lohnen, das Schweizer Modell zu spiegeln: der Wert von Genossenschaften und Allmenden, die Organisation von unten; kleinstrukturierte, politisch möglichst autonome und wirtschaftlich möglichst autarke Kreislaufwirtschaften, die offen sind gegenüber der Welt, erwiesen sich als überaus erfolgreich und stabil. Und wie sich inzwischen zeigt, sind sie auch unter gesamtheitlichen Gesichtspunkten geeignet, das Beste aus den Menschen zu machen.

Ersten Kommentar schreiben

Kommentar verfassen