Lustvoll vom Lebendigen lernen

Gefangen in unserer Epoche und in meinem kleinen Leben, vermute ich vorweg, dass wir einerseits insgesamt immer irgendwie falsch liegen, und dass andererseits unsere Ideen grundsätzlich schon altbacken sind, wenn sie auftauchen.

Trotz dieses Hintergrundes möchte ich nachfolgend Ideen weitergeben, weil ich sie für besonders geeignet halte, schwerwiegende und grundlegende Mängel unserer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation nachhaltig zu beheben. Die Ideen formuliert hat Michael Sonntag, promovierter Berner Arzt und Psychiater, der sich in den letzten Jahren zunehmend mit gesellschaftlichen Fragen zu befassen begonnen hat.

Plötzlich kein Grund mehr zu streiten

Besonders geeignet halte ich seine Ideen, weil sie auf einem politisch, wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich weitgehend unumstrittenen Fundament aufbauen: den Prinzipien des Lebens aus Sicht der Biologie.
Sonntag ist der Frage nachgegangen, was vitale Systeme ausmacht: wie sich Organismen verhalten, damit sie lebendig sind und lebendig bleiben. Er fragt also nicht, wie Menschen, Staaten oder vielleicht nicht gar Völker und Völkische reich, zufrieden oder glücklich sein und werden können – und vielleicht nicht gar klüger als andere. Er fragt auch nicht nach moralischen Prinzipien von Gut und Böse, wie es Religionen im Privaten tun und vielerorts auf das Gesellschaftliche übertragen, und er macht auch keine volks- oder betriebswirtschaftliche Rechnung auf.

Sein Ansatz ist von einleuchtender Einfachheit: Wie kommt Lebendigkeit zustande, wie funktionieren vitale Systeme? Damit verschwindet das Politische, das uns mit seinen Flügelkämpfen seit Menschengedenken gegeneinanderstellt, gegeneinanderhetzt und lähmt: kein kindisches, von wettbewerbsorientierten Bubenspielen dominiertes Links und Rechts, keine gehässigen Gender-, Nationalitäten oder Religionsfragen – nur die im besten Sinne kindliche Frage, wie lebendige Systeme funktionieren.

Eine Biene in Cornellkirschblüten.

Wie vitale Systeme funktionieren

Und so bestechend einfach und einleuchtend wie der Ansatz erscheinen mir auch die wissenschaftlich gut abgestützten Antworten, die ich nachfolgend grob zusammenfasse.

Potenziell lebendige Systeme weisen demnach folgende fünf Charakteristiken auf:

  • Unvorhersehbarkeit: Die Bestandteile vitaler Systeme kommunizieren zwar, aber in einer komplexen Weise, die weder als linear noch als unmittelbar zweckorientiert zu erkennen ist.
  • Ressourcenknappheit: In vitalen Systemen ist die verfügbare Energie beschränkt.
  • Offenheit: In vitalen Systemen fliessen Energie und Information offen.
  • Dynamisches Ungleichgewicht: Lebendige Systeme streben innerhalb von maximaler Instabilität nach dem Minimum an Stabilität.
  • Ständige Ursprünglichkeit: Alle Bestandteile lebendiger Systeme kommunizieren aktiv und verändern dabei ihre Ordnung, sodass ständig gänzlich neue Konstellationen und Dynamiken entstehen können.

Tiefgreifende gemeinsame Sinnstiftung

Diese Charakteristiken haben einen tiefen Sinn, der sich als evolutionäres Gesetz formulieren lässt. Demnach streben lebendige Systeme danach:

  • alle freien Energien zu erschliessen und möglichst ohne Verluste kooperativ einen allgemeinen Nutzen zu schaffen, von dem alle Bestandteile des Systems profitieren können.
  • ständig Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten durch gezielte Offenheit für Veränderung, für Neues und für Vielfältiges.
Eine Biene in Ginsterblüten.

Grundsätzlich folgen vitale Systeme dabei folgenden Prinzipien:

  • Gezielte Selbstorganisation autonomer Einheiten mit dezentraler Entscheidungsfindung und Kontrolle.
  • Gezielte Verbundenheit und Offenheit aller Einheiten, um Informationen auszutauschen und Kooperationen zu ermöglichen.
  • Gezielte Förderung lokaler Einheiten, Abgleichungen und Kooperationen.
  • Gezielte Förderung von Wechselwirkungen und Dynamiken, die das Vielfältige, Neue und Komplexere anstreben, was Entwicklungsmöglichkeiten und Widerstandsfähigkeit erhöht.
  • Gezielter Einsatz freier Energien für Kooperationen, welche gleichzeitig die Vitalität des Gesamtsystems verbessern und das Wohl seiner Bestandteile sicherstellen.

Daraus ergeben sich folgende Handlungsanleitungen:

  • Alle freien Energien dort einsetzen, wo durch Zusammenarbeit Entwicklungsmöglichkeiten entstehen können, weil dadurch nachhaltig ein allgemeiner Nutzen entsteht, von dem alle Teile des Gesamtsystems profitieren – das ist befriedigend.
  • Die Rahmenbedingungen gezielt so setzen, dass kooperative Schaffung von gemeinsamem Nutzen leichtfällt – das ist lustvoll.
Eine Biene in Apfelblüten.

Auf den Alltag übertragen

Die Regeln und Vorgehensweisen, die Michael Sonntag beschreibt, funktionieren dabei nicht nur in vitalen Systemem wie etwa dem menschlichen Körper. Vielmehr hat sich erwiesen, dass die Prinzipien auch in Organisationen gelten: Beispiele dafür sind die schwedische Handelsbanken, die brasilianische Semco Group oder das britische Medienunternehmen Morning Star.

Nun stehen diese biologischen Prinzipien von der Kooperation über die Autonomie und Kleinteiligkeit bis zum Streben nach gemeinsamen Nutzen in scharfem Gegensatz zu den traditionellen Strategien – sie sind seit Menschengedenken dominiert von einem gewalttätigen, kapitalistischen Patriarchat. Der Gegensatz der biologischen Prinzipein dürfte einen grossen Teil ihres Reizes ausmachen – neben der ideologischen Unverdächtigkeit dieser Prinzipen, die ja nur nach Leben streben.
Indes wäre es selbstredend eine Illusion zu meinen, alle politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Probleme würden mit dem Befolgen der biologischen Ansätze gelöst:

Zum einen zeigt das Leben mit seiner Zebrechtlichkeit und seiner Vergänglichkeit selbst seine Problematiken: Es ist auch tödlich und muss es sein. Zum anderen weisen sinnigerweise just die obigen Unternehmen, die den biologischen Prinzipien teilweise folgen, auf Problematiken hin: Vom Lebendigen lernen können auch Unternehmen, die in Finanzgeschäfte verwickelt sind, und selbst Waffenproduzenten oder Erdölkonzerne könnten biologischen Prinzipien folgen und dürften damit erfolgreich sein.

Eine Biene in Kirschblüten.

Eine weiteren, meines Erachtens insgesamt unverzichtbaren Ansatz, der sich gewissermassen auf der untersten Ebene in die biologischen Prinzipien einfügt, habe ich andernorts vorgeschlagen. Er schlägt drei simple, aber schwer zu befolgende Regeln vor, die liebevolles Handeln auszeichnen: Benachteiligte privilegieren, niemand attackieren und jegliche Moral Privatsache sein lassen – solange sie niemand attackiert oder benachteiligt.

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