Lernen statt lehren

Anfang 2020, wenige Wochen vor der globalen Corona-Pandemie, begann ich ein Fachstudium an der PH Bern und nahm mir vor, publizistisch Protokoll zu führen. Weil mir in der Folge Kopf und Herz hart gefüllt wurden, ging mein Mund über – bis ich aufhören musste, weil es mir und anderen unerträglich wurde.
Ein ehemaliger Didaktik-Dozent, dem ich das Leid klagte, brachte es auf folgenden Punkt: Die PH, die Flexibilisierung und Individualisierung als strategische Ziele definiert hat, erwarte von mir ein Schülerverhalten.

Um nicht schon früh zu scheitern, schickte ich mich darein, legte mir mit insgesamt fast 40 Jahren Schulpraxis auf dem Buckel ein Schülervehalten zu und hielt still. Nun will ich aber wieder anfangen, mich hier zu äussern, nachfolgend zum Lehrplan 21 und seiner Kompetenzorientierung. Die Flughöhe passe ich dabei bewusst der PH an, aber nicht als Schüler.

Wir alle, die in Sachzwängsten gefangen sind, laufen ständig Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen: entweder das Allgemeine aus dem Auge zu verlieren, oder aus dem besonderen Blick auf einen Baum etwas Allgemeines abzuleiten, ohne an den Wald zu denken – beides häufige Phänomene auch und gerade im Akademischen.

Kompetenzorientierung nicht kapiert

Wenn ich versuche, im Allgemeinen das Besondere zu sehen, also vom Wald ausgehend auf die Bäume zu schliessen und sie entsprechend anzuschauen, dann fällt mir zweierlei auf, das miteinander zu tun haben könnte:

Einerseits scheint mit die Kompetenzorientierung des Lehrplans von denen, die diese Kompetenzorientierung zu vermitteln, umzusetzen oder politisch zu verantworten haben, weitgehend nicht begriffen – oder nicht akzeptiert.
Wer die Kompetenzorientierung nicht als Paradigmawechsel begreift, dürfte in der Tat Mühe damit haben: Schreiben wir die Leistungsorientierung an bestimmen Höhen bestimmter Messlatten einfach fort, fehlt uns der Sinn für das Wesen der Kompetenzorientierung – und der Ziele des vorherigen Lehrplans 95 mit seinem Ruf nach Fach-, Sozial- und Selbstkompetenz.

Erst wenn wir erkennen, dass zum einen die Einheiten der Massstäbe zur Disposition stehen, und zum anderen auch die Höhen wandelbar sind, auf denen wir die dynamischen Massstäbe einstellen, kann ein Zugang zur Kompetenzorientierung gelingen: nicht mehr nur ganz bestimmte Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen in einem ganz bestimmten Grad entwickeln, sondern grundsätzliches Können um das Wissen.

Dies zumal im Phänomenologischen das Wissen ohnehin vom globalen Netzwerk zur Verfügung gestellt wird – im Epistemologischen jedoch nie und nimmer.
Das macht Kompetenzorientierung umso wesentlicher, will sie doch letztlich Denken lehren und öffnet damit auch Tore für jene, die in traditionellen Systemen wegen Dyskalkulie, Legasthenie, Synästhetik, ADHS, Imbezilität oder so durch alle Maschen fallen.

Herbert Marshall McLuhan, ein ebenso vergessener wie verwegener Denker, hat das schon vor zwei Generationen auf folgenden Punkt gebracht : „In der Bildung ist die konventionelle Einteilung des Lehrstoffs in Gegenstände so überholt wie das mittelalterliche Trivium und Quadrivium nach der Renaissance. (…) Jeder Gegenstand, in den man tief und ganz eindringt, zeigt sich sofort in seinen Beziehungen zu anderen Gegenständen. (…) Wenn Arithmetik in der dritten oder neunten Schulstufe als Zahlentheorie, Logistik und Kulturgeschichte betrieben wird, ist sie nicht mehr reines Aufgabenlösen. (…) Wenn Lehrpläne weiterhin nach ihrem gegenwärtigen unkoordinierten, aufgefächerten Schema fortgeführt werden, wird die Gemeinschaft sicher nicht fähig sein, die kybernetische Welt, in der wir leben, zu verstehen.“

PH hinkt hinterher

Andererseits und insofern hinkt die Schule im Didaktischen und Methodischen schrecklich hinter unserer Zeit her – und das kann nicht nur systemisch bedingt sein, kann also nicht nur an den Strukturen liegen:
Obwohl wir ganz offensichtlich am Ende der Alphabetisierung stehen, die uns ein halbes Jahrtausend lang geprägt (sic) hat, und obwohl die audiovisuelle Epoche uns buchstäblich ins Auge fällt und ständig aufhorchen lässt, tun wir noch so, als herrschten und beherrschten Bücher die Welt und die Schulen.

Das hat systemisch und moralisch nachvollziehbare Gründe:
Systemisch ist es verständlich, weil eo ipse nicht klar sein kann, wer die Digitalisierung treibt, weil darüber hinaus der Schule als staatlicher Angelegenheit die Mittel immer und überall tendenziell fehlen (oder es zu Fehlallokationen kommt) und weil es schliesslich keinen Druck gibt (es sei denn, systemisch wirke so etwas wie Corona).
Moralisch wiederum ist es ohnehin verständlich, zeigt aber die Unprofessionalität der Schule: Moral ist zum einen so privat und unverzichtbar wie Religion, zum anderen eine korporatistische vulgo staatliche Angelegen- und Notwendigkeit.

Auch hier sei McLuhan als Zeuge bemüht: Man müsse „erwarten, dass ein neues Medium irgend eines Zeitabschnitts von jenen, die sich die Schemata frühere Medien irgendwelcher Art zu eigen gemacht haben, schon bald als Pseudo eingestuft wird. Das scheint eigentlich ein normaler, geradezu liebenswerte Zug zu sein, der ein Höchstmass an stetigem Fortbestand der Gesellschaft in Neuerungen gewährleistet. Doch der ganze Konservatismus der Welt kann der ökologischen Flut den neuen elektrischen Medien nicht einmal symbolisch Widerstand leisten.“

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