Das Gastgewerbe ist schon lange arm dran

Rund 60 Prozent der Schweizer Hotels und Restaurants seien defizitär, wenn sie einen Unternehmerlohn und Eigenkapitalverzinsung berücksichtigten, wie es für ein nachhaltiges Wirtschaften unerlässlich ist: «Nur wenn die Unternehmer auf den Unternehmerlohn und auf die Eigenkapitalverzinsung verzichten», führte der Branchenverband GastroSuisse in seinem Branchenspiegel weiter aus, «können wenigstens neun von zehn Betrieben schwarze Zahlen schreiben».

Aus dem Branchenspiegel von GastroSuisse: prekäre Zahlen von 2004.

Das war im Jahr 2010, doch die Zahlen bezogen sich nicht auf das damalige internationale Finanzkrisenjahr, sondern auf die Zeit davor, als die Weltwirtschaft brummte: Dass die rund 5000 Hotels und mehr als 20’000 Restaurants im Land derart schlecht aufgestellt waren, posaunte der Branchenverband allerdings nicht in die Welt hinaus: Der Branchenspiegel wurde damals und wird bis heute nicht einfach veröffentlicht, geschweige denn online publiziert, wie es zu erwarten wäre. Zwar konnten die Medienschaffenden, die jeweils die Jahresmedienkonferenz des Verbandes besuchten, dort ein gedrucktes Exemplar behändigen oder ein Exemplar direkt beim Verband bestellen. Aber alle anderen mussten und müssen den Branchenspiegel kaufen und erhalten ihn nicht digital, sondern gedruckt.

Aus dem Branchenspiegel von GastroSuisse: prekäre Zahlen von 2007.

Wie es dem Schweizer Gastgewerbe geht, behält der Verband also seit Jahrzehnten weitgehend für sich – ein ebenso schräges wie klassisches Beispiel für Marketing-Kommunikation und Doppeldenk, deren Sinn sich nur in machtpolitischen Zusammenhängen erschliesst.

Vor Corona: zwei Drittel der Gastrobranche defizitär

In den 2000er Jahren war die Lage nicht besser gewesen, und auch im wirtschaftlich blühenden Jahrzehnt, das der Corona-Krise voranging, verbesserte sich die Lage für das Schweizer Gastgewerbe in der Folge nicht, im Gegenteil. Wie der Branchenspiegel von 2018 darlegte, erhöhte sich der Anteil defizitärer Betriebe vielmehr auf über 63 Prozent – zum Mitschreiben: Zwei von drei Schweizer Restaurants und Hotels mussten bereits vor der Corona-Krise von ihrer Substanz zehren, um wirtschaftlich überhaupt zu überleben.

Aus dem Branchenspiegel von GastroSuisse: prekäre Zahlen von 2016.

Volkswirtschaftlich ist das plausibel: Wie die Landwirtschaft, so kann sich auch das Gastgewerbe mit seinem hohen und unverzichtbaren Anteil an menschlicher Arbeit in hochentwickelten Volkswirtschaften, in denen Arbeit teuer ist, fast nicht rechnen. Auch deshalb kamen in der hiesigen Gastroszene einerseits clangastronomische Familienbetriebe jenseits der Arbeits- und Sozialgesetzgebung auf, andererseits systemgastronomische, skalierbare Konzepte von McDonald’s über Mövenpick bis zu Bindella, Candrian, SV-Group, DSR oder Starbucks und Co.

Gastgewerbe als Hobby oder zur Geldwäsche

Der Rest sind zum einen Liebhaber- oder Finanzobjekte, mit denen Geld gewaschen oder ein Hobby betrieben wird – wisst ihr übrigens, wie ihr im Gastgewerbe ein kleines Vermögen machen könnt? Indem ihr mit einem grossen Vermögen beginnt!

So verdient denn auch praktisch kein Schweizer Luxushotel wirklich Geld, sondern dient den Eigentümern zum Renommee oder zur Anlage in Schweizer Franken oder beidem. Andrea Scherz, als Patron im Gstaad Palace einer der letzten gewerblichen Mohikaner, sagte mir schon vor Jahren, seine Familie habe bald alles verwertbare Kapital und Familiensilber verflüssigt, um das Hotel zu halten; und der frühere Direktor von Schweiz Tourismus meinte mir gegenüber einmal, es sei ihm lieber, Milliardäre sammelten Hotels als Kunst – manche machen freilich beides und verkörpern bisweilen beispielhaft das patriarchale Kapital: in der Schweiz namentlich Urs E. Schwarzenbach.

Zum anderen und nicht zuletzt sind da die prekarisierten Kleinstbetriebe. Sie werden gezielt im Glauben bestärkt, sie seien in derselben Kategorie unterwegs wie ihre wohlhabenden Kollegen, die das Gastgewerbe nur zum Schein betreiben und sich die Hände zwar schmutzig machen, aber bestimmt nicht mit Handarbeit.
Zu allem Elend lassen sich diese kleingehaltenen Kleingewerbler politisch einreden, sie würden bedroht von Fremdarbeitern und anderen Proletariern, obwohl die Branche hierzuberge auf die entsprechenden Hilfskräfte angewiesen ist und das Gastgewerbe trotz seiner tendenziell nationalistischen Haltung einen der integrativsten gesellschaftlichen Kräfte darstellt.

Gastgewerbe: prekäre Branche mit System

Dieses hinterhältige politische Doppeldenk, das aktuell Magnaten wie Blocher, Murdoch oder Trump vormachen, lässt sich weit zurückverfolgen: von Marius, der um 90 v.Chr. nach einer Republik rief und Macht meinte, bis zu Bismarck, der in den 1880ern nach Arbeitsgesetzen und Sozialversicherungen rief, aber die politische Auseinanderdividierung von Gewerbe und Proletariat zwecks Sicherung des patriarchalen Kapitals sicherte.

Zum Mitschreiben: In jedem 20. gastgewerblichen Betrieb der Schweiz arbeitet neben den Gastgebenden überhaupt niemand, und mehr als zwei Drittel aller Schweizer Hotels und Restaurants beschäftigen weniger als 10 Angestellte.

Aus dem Branchenspiegel von GastroSuisse: eine Branche von Kleinstbetrieben.

Das prekäre Fortbestehen dieser Kleinstbetriebe, ihre krude politische Ausrichtung, die von den Verbänden kräftig befeuert wird, sowie das fehlende allgemeine Wissen um die prekäre Lage der Branche sind nun keineswegs widersinnig: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode, und von der Mehrwertsteuer bis zur Arbeitslosenversicherung profitiert sogar der Staat von den zahllosen Wirtinnen und Wirten, die von der Hand in den Mund leben und einfach weitermachen.
Ich werde nie vergessen, wie mir der Interhome-Gründer Bruno Franzen vor Jahrzehnten einmal sagte, er habe Mitleid mit all den Gastgewerblern, die den ganzen Tag arbeiteten, nachts vor lauter Geldsorgen schlaflos blieben und es sich nicht einmal leisten könnten, ihre Betriebe zu verkaufen – und wisst Ihr, warum das im Gastgewerbe Selbstständige sind? Weil sie selbst ständig arbeiten!

Corona bringt Doppeldenk ans Licht

Corona kommt nun ganz quer, und wenn die gastgewerblichen Verbandsspitzen dieser Tage darauf hinweisen, ein Fünftel der Schweizer Restaurants sei bereits eingegangen, wird das systemische Doppeldenk deutlich: Schon vor Jahren hatte die vorherige Verbandsspitze nämlich erklärt, ein Drittel der Schweizer Restaurants seien überflüssig.
Die aktuelle Krise setzt indes vor allem jenen zu, die jenseits der Arbeits- und Sozialgesetzgebungen gearbeitet und vielerorts das klassische Gastgewerbe verdrängt haben. Es verschwinden also kaum die ordentlichen Betriebe, die einigermassen sauber arbeiten und abrechnen, denn diese Häuser erhalten samt ihren Angestellten Unterstützung vom Staat.

Die aktuellen gastgewerblichen Klagen, die so laut sind wie sie hinsichtlich der gastgewerblichen Gesamtlage in früheren Jahren leise blieben, erklären sich im Rahmen von Doppeldenk bestens: Es gibt zwar ein Interesse daran, dass jene Betriebe verschwinden, die sich vom L-GAV bis zu den Hygienevorschriften um die hiesigen Vorgaben foutieren. Aber gleichzeitig müsste die Branche auch ein Interesse an entsprechender Transparenz haben – etwa den Branchenspiegel online stellen und immer wieder klarmachen, wie schwer es ist, im Gastgewerbe Geld zu verdienen.

Dass der Branchenverband sich entsprechend bewegt, ist freilich kaum zu erwarten: Der Verband profitiert von den herrschenden Verhältnissen und hat gerade in den letzten Jahren viel dafür getan, Transparenz zu verhindern, Abhängigkeiten zu fördern und Krisenherde klug zu bewirtschaften.

Keine persönliche, eine systemische Schuld

Die Verantwortlichen dafür an den Pranger zu stellen, griffe freilich zu kurz und wäre ungerecht: Zwar macht das Gastgewerbe in der aktuellen Krise besonders deutlich, wie Machtpolitik und Doppeldenk funktionieren, und das erschreckende Bild wird auch deshalb so deutlich, weil die Verantwortlichen in den Betrieben draussen wenig Zeit haben, um ihrem Funktionariat auf die Finger zu schauen.

Aber dass die Männer – und es sind überall weitgehend Männer – ihre machtpolitischen Bubenspiele spielen, ist und war schon immer so. Und wenn die Kontroll- und Ausgleichsmechanismen, die in heutigen demokratischen Systemen und Rechtsstaaten selbstverständlich sind, nicht recht greifen, wirken Schuldzuweisungen kontraproduktiv, denn sie weisen von den systemischen Mängeln weg auf persönliche – ein kindischer massenmedialer Klassiker.

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