JungfrauZeitung war nie jungfräulich

Das erste Mal mit Urs Gossweiler zu tun hatte ich Anfang der 1990er. Damals attackierte er mit Unterstützung bernischer Bosse und der damals noch liberalen und international angesehenen Weltwoche den traditionsreichen Oberhasler – siehe Artikel unten. Anfang der 2000er hatte Gossweiler das bestandene Oberhasler Lokalblatt geschluckt, Grundlage für die unfreundliche Übernahme war neben fremder Hilfe und Gossweilers Überzeugungskraft der Umstand, dass Gossweiler in Brienz von seinem Vater eine Druckerei samt dem Lokalblatt «Der Brienzer» übernommen hatte.

Todeskampf des Oberhaslers im Dezember 1992.

Unfreundliche Übernahmen von Brienz aus

In der Folge baute Urs Gossweiler von Brienz aus nicht nur an der «JungfrauZeitung», die schliesslich je nach Tal «Oberhasler», «Brienzer» oder «Echo von Grindelwald» hiess. Darüber hinaus etablierte er einerseits ein digitales Unternehmen, das auf hohem Niveau unter anderem den Internetauftritt von Gossweilers Blättern realisierte und eine Weile lang weltweit Beachtung fand. Andererseits trat Gossweiler als ebenso rühriger wie putziger Vorzeigekleinverleger wortreich in den Vorstandskreis der Grossverleger aus Zofingen und Zürich, Basel und Bern – Wanner in Aarau und Lebrument in der Südostschweiz waren damals noch nicht wirklich auf der obersten Schweizer Medienebene angekommen, von Blocher ganz zu schweigen.

Gehätschelter Kleiner unter Grossen

Glänzendster Ausdruck von Gossweilers Renommee war einige Jahre lang die Preisverleihung von Herbert, bei dem sich die Schweizer Medienszene im Giessbach samt Promigemüse ein Stelldichein gab – siehe Artikel unten. Gossweiler und seine Spezis zeichneten dabei jährlich Männer aus, die sich besonders für alpine Medien einsetzten – halt einer dieser ebenso eitlen wie klassischen Doppeldenk-Preise in eigener Sache.
Den Preis, der so sang- und klanglos verschwand wie Gossweilers grossspurige G-OS, LTMs oder die gedruckte JungfrauZeitung, habe ich natürlich nie erhalten. Aber ich durfte bisweilen für grosse Zürcher Blätter darüber berichten und erinnere mich lebhaft, wie Preisträger Bernhard Russi sich mir gegenüber über das Gehabe eher ärgerte und meinte, die alpine Bevölkerung brauche eher mehr Verständnis und eher weniger derartige Bevormundung.

Feste im Giessbach: mutmassliche Höhepunkte von Gossweilers Schaffen.

Aufblasen und Luft ablassen

Das zweite Mal begegnete ich Gossweiler, als er Brienz verlassen hatte und in einem tollen Neubau mitten in Interlaken residierte: Zur Debatte stand, ob ich bei der JungfrauZeitung einen Job annehmen solle, und Gossweiler erzählte mir in vielfach verglasten Büroräumen begeistert von dem romantischen Bild, das er von mir als Freiem Journalisten hatte: erst wochenlang draussen in freier Wildbahn und drinnen im stillen Kämmerlein recherchieren und dann mit einer saftigen Geschichte herauskommen.
Ich wunderte mich sehr, erzählte ihm aber nichts von den Mühen und dem Murks, Zürcher Medien mit journalistischen Stoffen zu bedienen und damit leidlich den Lebensunterhalt zu verdienen (für bernische Medien wollte ich nie arbeiten, denn Nähe verunmöglicht Distanz, die Journalismus mitdefiniert).
Als Gossweiler im Gespräch mit mir dann das Grosseganze in den Blick nahm und pathetisch Einigkeit und Selbstständigkeit des Mikrokosmos Berner Oberland beschwor, wunderte ich mich noch mehr – und uns beiden wurde klar, dass es mit einer Zusammenarbeit nichts werden würde.

Wettkampfmässig tote Rosse reiten

Bisweilen begegneten und grüssten wir uns noch an Veranstaltungen oder Bars – ich mag Gossweiler, wir können es gut, vielleicht weil in meiner Familie neben den Emmentaler Grundern vorab Brienzer Geschlechter wie Kienholz und Abplanalp und Linder stecken.
Als jedoch in Interlaken nicht nur Gossweilers Redaktion zusammenbrach und die JungfrauZeitung nach Thun flüchtete, verloren wir uns aus den Augen. Mein letztes Rencontre war indirekt: ein scharfer Disput zwischen den Chefredaktoren von JungfrauZeitung und einer Oberländer Ausgabe «dieser Zeitung», Oberbegriff für diese unterschiedlich angeschriebenen, inzwischen dem Tages-Anzeiger-Konzern gehörenden Einheitsblätter von Thuner Tagblatt/Berner Oberländer/Berner Zeitung/Langenthaler Tagblatt/Bieler Tagblatt.
Im Streit zwischen den beiden redaktionellen Kadern warf dieser jenem vor, über den Zaun zu grasen, während jener noch nicht gewusst haben dürfte, dass sich die JungfrauZeitung von der Druckerpresse ganz und aus dem Berner Oberland weitgehend verabschieden würde.

Die grossen Bekenntnisse Gossweilers zum Berner Oberland zerbrachen an gigantischen wirtschaftlichen Umwälzungen und Zwängen: Seit Gossweilers Startup ums Jahr 2000 war gemunkelt worden, die JungfrauZeitung sei massgeblich vom Berner Medien- und Politkuchen um big C von Graffenried geplant und getragen worden.
Diese Lesart bestätigten nicht nur ein langjähriger Berner Oberländer Nationalrat und die fehlende finanzielle Transparenz Gossweilers, sondern auch der Gratisauftritt der JungfrauZeitung im Internet sowie ihr immerzu viel zu dünnes Inseratevolumen – um wirklich etwas abzuwerfen, mussten Zeitung vor den Internetzeiten etwa zur Hälfte aus Inserateseiten bestehen.

Dass Gossweiler überhaupt so fuhrwerken konnte, hatte demnach strategische Hintergründe, gesteuert und finanziert von Bern her: Einerseits sollte Gossweiler ein publizistisches Gegengewicht zu den liberalen Stimmen à la Oberländisches Volksblatt und des Oberhasler setzen, und andererseits sollte sein Projekt zeigen, ob sich der lesenden und inserierenden Kundschaft ein reines Regionalblatt andrehen liesse.

JungfrauZeitung: inzwischen voll mit kaum erkennbarer, bezahlter Werbung – alle hier sichtbaren Artikel – sowie nicht mehr wirklich regional ausgerichtet.

JungfrauZeitung prostituiert sich jetzt auch

Beide Vorhaben sind gelungen, doch in einer schönen Ironie der Geschichte ganz anders als gedacht:

  • Die publizistischen Gewichte haben sich international, national und regional so weit verschoben, dass hierzuberge inzwischen sogar der Nebelspalter chauvinistischen Nationalisten gehört und es neben den kommerziellen Doppeldenkmedien letztlich nur noch die Öffentlich-Rechtlichen als klassische pluralistische Medien gibt – sowie ein paar hoffnungslos verschupfte Internetecken wie meine* und andere.
  • Das reine Regionalblatt wiederum macht heutzutage mit grossem Gewinn nicht Urs Gossweiler, sondern Annette Weber mit ihren gleichförmigen, aber inhaltlich lokalisierten Gratisblättern, die nur aus Werbung bestehen.

Die JungfrauZeitung verliert derweil ihre Jungfräulichkeit komplett und hinkt allem hinterher: Nicht genug, dass Nachrichten aus aller Welt und ein langjähriger Berner Promijournalist das Blatt heute prägen und beliebig machen. Überdies kommt inzwischen viel Werbung redaktionell daher und ist nur für ein geübtes Auge als bezahlt zu erkennen – siehe oben.

Mal schauen, wie lange es überhaupt noch geht.
Immerhin fallen journalistische Leistungen umso mehr auf: etwa das Stück über den Grindelwaldner Gletscherpfarrer Gottfried Strasser oder die Serie über den Hof Maiezyt in Habkern.

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Seit ich mit dieser Plattform begonnen habe, konnte ich übrigens drei Spenden verzeichnen, jeweils zweistellige.

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