Volksinitiativen dienen auch der Volksverdummung

Die Zweitwohnungsinitiative war eine der wenigen Ausnahmen: Gleich nach der Abstimmung im März 2012 änderten Baukommissionen der Gemeinden und andere Bewilligungsbehörden die Praxis und hielten sich an den neuen Verfassungstext. Denn sie mussten damit rechnen, in den Bewilligungsverfahren zu unterliegen, wenn sie die neuen Regeln nicht befolgten.

In der Regel läuft es aber bei eidgenössischen Volksinitiativen umgekehrt: Nichts verändert sich, nichts geschieht. Der Grund dafür ist, dass eidgenössische Volksinitiativen sich auf die Bundesverfassung beziehen, deren Vorgaben unverbindlich sind.

Volksinitiativen als Leerlauf

Bei der Mutterschaftsversicherung waren Leerlauf und Stillstand besonders eindrücklich: 1945 nahm das Schweizer Stimmvolk eine Volksinitiative an, welche die Bundesverfassung um die Forderung nach einer Mutterschaftsversicherung ergänzte. In der Folge dauerte es volle 59 Jahre, bis das Bundesparlament 2004 die gesetzliche Grundlage schuf und junge Mütter staatlich endlich abgesichert waren.

Die Mutterschaftsversicherung als Forderung und die Zweitwohnungsinitiative als Verbot verdeutlichen das Phänomen: Die Schweiz kennt keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die Forderungen in der Bundesverfassung können also juristisch gar nicht durchgesetzt werden.
Dies im Gegensatz zu Verboten: Wenn es wie bei der Zweitwohnungsinitiative Verbote gibt, die aufgrund eines Volksentscheides neu in der Bundesverfassung stehen, können die Behörden auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene diese Verbote in der Regel nicht mehr umgehen – und zwar sofort. Denn bei Verboten steht im Gegensatz zu Forderungen der Beschwerdeweg offen, auf dem Gerichte bis auf Verfassungsstufe die Rechtmässigkeit von Behördenentscheiden prüfen und korrigieren können.

Starke Verbote, schwache Forderungen

Bei Forderungen wie der Mutterschaftsversicherung jedoch gibt es gar keine Behördenentscheide, die jemand anfechten könnte, und die mangelnde Verfassungsgerichtsbarkeit führt dazu, dass Forderungen nicht einklagbar sind – das betrifft etwa auch die mangelnde Dienstpflicht der Frauen trotz Gleichberechtigung, beides steht als Forderung in der Verfassung.

Auch wenn das Volk also etwas will und mit einer Initiative in die Verfassung schreibt, ist dieser Volkswille gerichtlich nicht durchsetzbar, solange das Parlament in Bern nicht gesetzliche Grundlagen dazu schafft.
Erst wenn Gesetze und Verordnungen stehen, welche die Verfassungstexte umsetzen, sind Forderungen überhaupt durchsetzbar.

Deshalb ist ein Grossteil der Diskussionen um Volksinitiativen heisse Luft: Zwar dürfte es im National- und vielleicht gar im Ständerat politisches Personal geben, das sich dieser Umstände nicht bewusst ist – ganz zu schweigen von den Medienschaffenden.

Auf dem Märit dürfte mehr Transparenz und Klarheit herrschen als im Bundeshaus.

Aber eigentlich sollte allen klar sein, dass eidgenössische Volksinitiativen so geduldig sind wie das Papier, auf denen sie stehen. Und eigentlich müsste deshalb einerseits weniger populistisches Gelafer die Plattformen und Kanäle füllen und mehr Grundsätzliches und Ernsthaftes zu Volksrechten und politischer Arbeit – eine staatspolitische, strategische Dimension. Andererseits müsste auf taktischer, realpolitischer Ebene mehr Auseinandersetzung sein zur klugen Formulierung von Volksinitiativen – Franz Weber selig, bei dem ich in den 1980ern Redaktionsassistent war, ist hier ein gutes Vorbild.

Politik als Weg des geringsten Widerstandes

«Politiker haben in einer Demokratie den Anreiz, dem realpolitischen Prinzip der geringsten Anstrengung zu folgen», hat freilich der frühere bürgerliche Bundesrat Kaspar Villiger kürzlich festgestellt. Notwendige, aber schmerzhafte strukturelle Anpassungen würden auf breiter Front vertagt, erläuterte Villiger: «Die Gunst der Wähler geniessen oft nicht jene, die die Schwierigkeit der Problemlösungen schonungslos benennen und die zur Genesung nötigen Opfer in Aussicht stellen, sondern jene, die mit einfachen Rezepten schmerzlose Heilung versprechen.»

Insofern kann der politische Leerlauf nicht verwundern – auch und gerade um Volksinitiativen. Die entsprechenden Spiegelgefechte laufen ständig, zurzeit betreffen sie etwa die Konzernverantwortungsinitiative. Während hier wortreich das Wohl und Wehe diskutiert und wahlweise der Teufel oder das Heil an die Wand gemalt wird, findet die Grundsatzdiskussion praktisch nicht statt. Dabei ist sie interessant, steht doch im Verfassungstext, dass Unternehmen auch für den Schaden haften, «den durch sie kontrollierte Unternehmen aufgrund der Verletzung von international anerkannten Menschenrechten oder internationalen Umweltstandards in Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtung verursacht haben».

Harte Fakten statt heisse Luft

Diese Formulierung dürfte auch ohne nachgereichte gesetzliche Grundlagen gerichtlich durchsetzbar sein – eine interessante Ausgangslage, zumal die Konzerne laut dem Verfassungstext nur dann nicht geradestehen müssen, «wenn sie beweisen, dass sie alle gebotene Sorgfalt (…) angewendet haben, um den Schaden zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre».

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