Nächste nebulöse Bauernkrise in Hochdorf

„Aus rein ökomischen Überlegungen heraus hätten wir die Landwirtschaft in der Schweiz schon längst aufgeben müssen“, hielt im Januar 2011 der St. Galler Volkswirtschaftsprofessor Mathias Binswanger in der NZZ fest und führte aus: „Dass wir die Landwirtschaft hierzulande erhalten, ist ein politischer und kein ökonomischer Entscheid.“

Das war schon da nichts Neues: „Auf dass unsere Landwirtschaft nicht einer trostlosen Lage zerfalle“, werweisste die NZZ im März 1922, „ist noch zu helfen, und wie muss nützliche Hilfe beschaffen sein?“. Damals steckte die Käseunion, die 1999 schliesslich mit einem Defizit von über 220 Millionen Franken liquidiert werden sollte, in einer schweren Finanzkrise. Im April 1922 stellte der Bundesrat dazu klar: „Nicht der Landwirtschaft soll geholfen werden, sondern der ganzen Landwirtschaft.“ Bei einer Insolvenzerklärung werde den Bauern ihre Käse nicht bezahlt, holte die Landesregierung drohend und populistisch aus: „Der Bauer stünde von einem Tage zum anderen ohne Geld da.“

Natürlich wurde geholfen, aber natürlich ging es schon damals nicht um den Bauernstand, sondern um die Agrarbürokratie und ihre Pfründen. Diese Agrarbürokratie war damals noch recht jung: Nach sogenannten «Milchkriegen», die von 1908 bis 1913 vorab zwischen Produzenten und Händlern von Milch und Käse tobten, und im Zuge des wirklichen 1. Weltkriegs von 1914 bis 1918 regulierte der Bund ab 1916 den Milchmarkt: der Beginn der Verstaatlichung der Schweizer Landwirtschaft, etwa 20 Milliarden Franken gibt die Schweiz inzwischen jährlich für die Branche aus, im Schnitt rund 400’000 Franken für jeden der gut 50’000 Bauernhöfe im Land.

Wände vor unseren Köpfen.

Kondensmilch, Milchpulver, Pasteurisierung, Kühlung

Die Kriegszeit Anfang des 20. Jahrhunderts, die mit einer stark regulierten Kriegswirtschaft einherging, war freilich nur der akute Grund für den staatlichen Zugriff auf die Schweizer Landwirtschaft.
Sie hatte seit Menschengedenken auf Milch- und Viehwirtschaft gesetzt, Acker-, Gemüse- oder Weinbau waren hierzuberge immer wenigen guten Lagen vorbehalten gewesen. Dies wiederum führte in vorindustriellen Zeiten dazu, dass in diesen guten Lagen wenig Milch- und Viehwirtschaft anzutreffen war. Und aus dieser Tatsache machten die Schweizer Bergbauern über Jahrhunderte gute Geschäfte: Einerseits boten die Viehmärkte namentlich in Bern, Strassburg und München für geschickte und glückliche Viehbauern und Treiber grosse Verdienstmöglichkeiten. Andererseits war Hartkäse eines der wenigen hochwertigen und haltbaren Nahrungsmittel, weshalb Schiffe, die wochenlang auf hoher See unterwegs waren, Bergkäse in den Kombüsen hatten – dass auch die besten Segel bis in die Neuzeit aus Schweizer Produktion stammten, ist eine andere, ebenfalls aufschlussreiche Geschichte, die etwa Jean-François Bergier in seiner Wirtschaftsgeschichte der Schweiz kompakt und faszinierend dargelegt hat.

Zu lesen ist dort auch die industrielle Entwicklung, welche die gute Position der Schweizer Berglandwirtschaft zunichtemachte – die andere Grundlage dieses Artikels ist das Buch «Milch für alle», welche die Schweizer Milchgeschichte beschreibt. Vier Stichworte aus dem 19. Jahrhundert markieren das Ende der Schweizer Berglandwirtschaft und die eigentlichen Ursachen der ständigen wirtschaftspolitischen Debakel seither: Kondensmilch, Milchpulver, Pasteurisierung und Kühlung.
Damit öffnete sich das Feld für Milchproduzenten im Flachland und für Talkäsereien, 1815 die erste weitum in Kiesen. Die Bergbauern hatten im Wettbewerb gegen die Flachlandbauern und die neuen Technologien keine Chance, und nachdem der Bund ab dem 20. Jahrhundert die Landwirtschaft mehr und mehr regulierte, hatten die Bauern immer weniger unternehmerischen Spielraum und waren immer abhängiger von der Bauernbürokatie.

Die totale Abhängigkeit der Bauernsame

Entscheidend für die Abhängigkeit ist auch die politische Grundlage. In der aktuellen Bundesverfassung fordert Artikel 102: «Der Bund stellt die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Er trifft vorsorgliche Massnahmen.» Und schiebt im zweiten Abschnitt nach: «Er kann nötigenfalls vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen.»

Die strukturelle Hilflosigkeit der produzierenden Berglandwirtschaft und der politische Freipass der staatlichen Bürokratie sind die eigentlichen und systemischen Ursachen auch für die regelmässigen Finanzdebakel – von der Käseunion 1920 und 1999 über Toni und Säntis und den Kollaps der «Swiss Dairy Food» 2002 bis zur aktuellen Krise von Hochdorf: «In den letzten eineinhalb Jahren wurden 180 Millionen Franken verbrannt», war hinsichtlich der ebenso typischen wie haarsträubenden Hochdorf-Geschichte kürzlich in der Tagespresse zu lesen. Die lange landwirtschaftliche Leidensgeschichte derartiger Konstrukte blieb dabei jedoch ausgeblendet; angesichts der atemberaubenden Aktualität zwar verständlich, aber nicht hilfreich.

Auch die Bauwirtschaft ist systemisch eingebunden.

Geschichte ausblenden und also wiederholen

Zu befürchten ist nämlich, dass auch in diesem Debakel zwar allerhand Skandalöses ausgegraben und mancher Sündenbock benannt, aber die Geschichte ausgeblendet und also nichts daraus gelernt wird. Dabei hält die Geschichte klare Lehren parat:

  • Die Schweizer Bauernbürokratie ist systemisch so angelegt, dass Mechanismen der Korruption und der organisierten Kriminalität beim besten Willen nicht zu verhindern sind: Verzweigungen in Bund und Kantone, in verschiedene Branchen samt Organisationen sowie in privatrechtlich organisierte, aber politisch getragene und teilweise milliardenschwere Unternehmen geben einer übergeordneten Vernunft gar keine Chance: Im einzelnen Entscheid das Interesse der Bauern und der Bevölkerung finden zu wollen, ist ähnlich weltfremd, wie es manche landwirtschaftlichen Organisationen sind – Proviande, Switzerland Cheese Marketing oder Swisswine.
  • Bei systemischen Problemen helfen keinerlei Eingriffe innerhalb des Systems, wie sie permanent produziert werden, aber Simulationen bleiben und den Akteuren als Legitimation dienen – ein König hier dürfte Albert Rösti sein. Vielmehr bräuchte es Eingriffe ins System selbst. Angesichts der rund 400’000 Franken, die eigentlich jährlich für jeden Schweizer Bauernhof fliessen, liegt der systemische Eingriff eigentlich nahe: den Bauern das Geld einfach so geben und sich die ganze Bürokratie schenken. Das ist zwar nicht weltfremder als die Landwirtschaftspolitik der letzten 100 Jahre, aber natürlich schon deshalb unvorstellbar, weil jeder Bauernbürokrat um seinen Posten fürchten müsste – hier zeigt sich die oben erwähnte Unmöglichkeit übergeordneter Vernunft am einzelnen Verhalten.

Ähnlich wie beim bizarren Steuerwesen, das ohne weiteres von einer in jeder übergeordneten Hinsicht vernünftigeren Transaktionssteuer abgelöst werden könnte, kann auch in der Landwirtschaftspolitik vorderhand nicht sein, was nicht sein darf – und wenn von Hochdorf bis Käseunion wieder und wieder Abermillionen verbrannt werden.

Pseudo-Emmentaler in Prag.

Bauern an die Macht

Allerdings könnte es sein, dass die Bauern mittelfristig selbst systemisch durchgreifen werden; nicht kraft politischen Willens, sondern anderer Entwicklungen: Zum einen können Landwirte dank der Digitalisierung inzwischen ganze Zwischenhandelsbereiche überspringen und direkt auf ihre Märkte kommen. Und zum anderen produziert gerade die Berglandwirtschaft nach wie vor hochwertige und oft einzigartige Produkte.

In diese Richtung argumentierte übrigens auch Manfred Bötsch, als er mir 2010 kurz vor seinem Abgang als Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft ein Interview gab: Bei schwierigem Wettbewerb gebe es «grundsätzlich zwei Möglichkeiten», erklärte Bötsch, «nämlich billiger werden oder besser. Die Schweiz hat aufgrund ihrer Struktur eigentlich keine Wahl, sie muss besser sein und verfolgt diesen Ansatz traditionellerweise. In der Landwirtschaft haben wir das jedoch unterschätzt und vernachlässigt und müssen es jetzt wieder erarbeiten. Es geht nicht mehr darum, Masse zu produzieren, sondern jene Klasse, für welche die Schweiz auf der ganzen Welt bekannt ist.»

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