Coop oder wer die Gastroszene dominiert

Martin Angehrn fragt mich, ob diese Plattfom hier „komplett werbefrei“ bleibe oder ob er mir sein «Genussprodukt LastBarrel.ch zur Degustation und journalistischen Besprechung» schicken könne. Ich antworte ihm umgehend, er könne mir das Degustationspaket gerne schicken, müsse aber mit einer journalistischen Reaktion rechnen – diese Plattform werde werbefrei bleiben.
Wenige Tage später liegt ein kleiner Karton in meinem Milchkasten, das Auspacken ist zwischen diesen Zeilen illustriert.

Martin Angehrn kenne und schätze ich seit Jahrzehnten von meiner redaktionellen Tätigkeit für GastroSuisse her: Als Patron des Grosshändlers Angehrn, bei dem besonders das Ostschweizer Gastgewerbe nicht migros, sondern engros einkaufte, begegnete ich Angehrn immer wieder. So war er unter anderem Industrievertreter in der Gilde der etablierten Schweizer Gastronomie, einem Club von gelernten Köchen mit eigenen Gastwirtschaftsbetrieben – erst in den letzten Jahren öffnete sich die Gilde auch für Gastgebende ohne Kochdiplom.

Grosshändler fürs Kleingewerbe

Martin Angehrn ist, namentlich im Gegensatz zu Finanzjongleur Beat Curti und zum Industriekapitän Alain Caparros, die Verkörperung des gewerblichen Grosshändlers fürs Kleingewerbe. In fünfter Generation belieferte und bediente er zusammen mit seinem Bruder Thomas Angehrn federführend das Gastgewerbe und den Detailhandel, rund 400 Beschäftigte füllten in Abholmärkten vorab der Nordostschweiz Angehrns Regale und erarbeiteten dreistellige Millionenumsätze. Aus einem Kaffee- und Teehandel, den Elise und Albert Angehrn-Hauser um die Wende zum 20. Jahrhundert samt Restaurant und Laden betrieben hatten, wuchs in den nachfolgenden Generationen von Gossau aus ein Handelskonzern, der ab den 1960ern früh auf Cash und Carry und moderne Logistik setzte und etwa mit Curti & Co oder Usego konkurrierte.

In den 1990ern begannen sich die reich gewordenen Grossverteiler à la Coop oder Denner auch im Zustell- und Abholgeschäft einzumischen: Nach millionenschweren Bubenspielen, bei denen neben dem Denner-Gründer und Philippe-Gayoul-Grossvater Kurt Schweri auch Beat Curti die todkranken Rösser des kleingewerblichen Detailhandels ritten, blieben einerseits Usego und Konsorten auf der Strecke.
Andererseits stieg Coop allein zum Giganten auch des Engros auf: Die Genossenschaft stellt ähnlich wie ihre genossenschaftliche Schwester Migros den kommerziellen Gedanken knallhart vor den genossenschaftlichen – ich bin beiderseits ein ebenso staunendes wie ohnmächtiges Mitglied.

Duopolist Coop: unauffälliger europäischer Engros-Gigant

Coop aber ist im Gegensatz zum anderen Duopolisten Migros nicht nur der omnipräsente Nachfolger der dahingeschiedenen kleingewerblichen Lädeli und Kioske sowie der mittelgrossen Warenhäuser. Coop ist darüber hinaus in der Schweiz zum fast alleinstehenden Abhol- und Zustellgrosshändler geworden – und in Europa zum einem Milliarden-Riesen, der kaum wahrgenommen wird, schliesslich braucht mann die Inserate und beisst nicht diese Hand, die da füttert.

Ab 2005 stieg Coop, massgeblich getrieben von Alain Caparros, der einst bei Curti angefangen hatte, über den deutschen Giganten Rewe in den Grosshandel ein: Transgourmet heisst der entsprechende, inzwischen allein der Genossenschaft Coop Schweiz gehörende Konzern. Er setzte 2020 mit fast 30’000 Beschäftigten in halb Europa über 8 Milliarden Franken um. Coops Transgourmet, die hierzulande unter den alten Markennamen Growa, Prodega oder Howeg unterwegs war oder ist, firmiert damit hinter Metro als zweitgrösstes Unternehmen seiner Art in Europa.

Darauf nehme ich einen Schluck von Angehrns putzigen Degustationsfläschchen: ein heimischer Gin zu 35 Stutz für 3,5 Dezi im Webshop – Gin mag ich eigentlich nicht so, und auf Alkoholika stehe ich glücklicherweise ohnehin nicht besonders.
Martin Angehrn schickt mir neben dem Gin vor allem Müsterchen von Rum, gebrannt aus heimischen Zuckerrüben: auch nicht wirklich mein Fall. Aber alles schön aufgemacht und hergerichtet und begleitet von stylisch gestaltetem Storytelling. Zu Angehrns Rolle in der Firma, die hinter den Spirituosen steht, finde ich freilich wenig Konkretes. In der Geschichte der Spirituosen auf der Website taucht aber ein Martin auf, der „mit seinem Netzwerk dem Last Barrel Tür und Tor öffnet“ – klingt nach Martin Angehrn.

noch ein Mittelständischer

Die Handvoll Abholmärkte der Angehrns konnten den Übernahmeschlachten und Paradigmenwechseln im Detail- und Grosshandel recht lange ausweichen – das Engagement für die kleingewerbliche Gilde ist Ausdruck davon. Im 21. Jahrhundert jedoch geriet Angehrn ins Schwerefeld der Migros, die eine Zeitlang versuchte, im Abhol- und Zustellgrosshandel ebenfalls Fuss zu fassen und mit Coop ins Rennen zu steigen.

2012 verkauften Angehrns 80 Prozent ihres Unternehmens an die Migros, die via Saviva beim grossen Engros-Puzzeln allerdings etwas spät dran war und Coop nicht das Wasser reichen konnte.
Immerhin fielen Angehrns Puzzleteile, die einst auch mit Volg Verbindung gesucht hatten, beim Mischeln der Migros nicht unter den Tisch: 2017 ging Angehrn von der Migros an Aligro.
Diese Firma habe ich noch gar nicht erwähnt, aber sie ist der Rede wert, denn Aligro bildet gewissermassen das mittelständische Westschweizer Pendant zu Angehrn: 1923 gründeten die Brüder Paul und Ernst Demaurex unweit von Renens in der Waadt ein Handelsunternehmen, das in den 1960ern in Genf den ersten Abholgrosshandel bauen liess, dem in der Folge in der Westschweiz eine ganze Reihe von Filialen folgten. Heute sind es schweizweit 14 Abholmärkte, mehr als die Hälfte davon aus dem Portfolio der Migros, respektive von Angehrn.

Bauernbusiness und ein paar Kleine

In Prost darauf versage ich mir, aber nachgereicht sei, dass es neben den Giganten Coop, der mittelständischen Aligro und den Bauerngenossenschaften um die Fenaco auch noch ganz Kleine gibt – einen davon sogar hier in Interlaken: H&R Gastro, gegründet früh im 19. Jahrhundert und immer noch in Familienbesitz – ein letztes Prost auf Patron Urs Reinhard.

PS
Etwas stört mich übrigens im Degupaket: Da fehlt ein Komma nach dem Einschub:

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