Jung und Alt

Anfang 2010 erschien in der längst verschwundenen Gratiszeitung Blick am Abend in dichter Folge ein Briefwechsel zwischen Vater und Sohn. Es waren keine Auftragsarbeiten, sondern meinerseits Herzensangelegenheiten und seitens des Medienmolochs wohl zunehmend unangenehme Überraschungen. Nachfolgend zum einen ein Filmchen zur Entstehung, andererseits die Texte.

Der Junge schreibt:
Wenigstens lesen sie

Hey Alter,
du hast dich über den Schwachsinn beklagt, der tagtäglich in all diesen Blättern steht, die bündelweise auf Pendlerströme lauern und als Altpapier diesen Strömen entlang liegen bleiben. Dass es Müll sei, zeige sich doch schon an diesem Altpapier, meintest du.

Vater, ich glaube, du liegst falsch: Es kann doch kein Zeichen von Schwachsinn sein, wenn Abertausende sich täglich über Zeilen beugen und lesen – ganz im Gegenteil. Früher, als du jung warst, lasen doch höchstens ein paar gestörte Bücherwürmer und abgehobene Intellektuelle; die meisten haben doch gedöst, geraucht, gestrickt und jedenfalls krampfhaft aneinander vorbei geschaut.

Mal abgesehen davon, dass sich der Rauch verzogen hat und man immer noch aneinander vorbei schaut. Dank all dieser Blätter lesen doch mehr Menschen denn je. Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dies sei ein Zeichen von Schwachsinn! Ich höre schon deinen Einwand: Nicht das Lesen sei der Schwachsinn, sondern der Inhalt des Gelesenen, die knappen Meldungen und knackigen Geschichten.

Hey Alter, da muss ich dich aber gleich bei deinen Altvorderen packen: «Das Medium ist die Botscha­ft», meinte der olle Medienguru McLuhan, den du doch bei jeder Gelegenheit hervorholst. «Das Medium ist die Botschaft» heisst einerseits: Die Tatsache, dass gelesen wird, hat mindestens so viel Gewicht wie der Inhalt des Gelesenen. Andererseits bilden sich die Lesenden ihr eigenes Urteil darüber, was Schwachsinn ist: «Das Bild entsteht im Auge des Betrachters.» Insofern gebe ich dir recht. Auch ich finde hier viel Schwachsinn. Aber ganz gut gemacht.

Der Alte schreibt:
Lesen reicht nicht

Hey Junge,
du wehrst dich, mein Sohn, für den Wert dieser Zeitungen, die einem an jedem verdammten Werktag im Weg liegen, die einen anspringen mit ihren fetten Lettern und Fotos, die einem das Hirn zukleistern mit ihren Informationsfetzen. Du wehrst dich und sagst, der Wert dieses allabendlichen Altpapiers zeige sich bereits daran, dass allüberall gelesen werde. Hast du recht? Ich zweifle noch!

Welchen Sinn hat es, die Technik des Lesens zu beherrschen, wenn der Inhalt des Gelesenen nichts zu tun hat mit der Wirklichkeit jener, die lesen? Komm mir jetzt nicht damit, das Weltgeschehen und seine Akteure, die durch alle Medien geschleift werden und die alle zu kennen glauben, hätten etwas mit uns zu tun! Oder macht es Sinn, wenn wir uns mit allen darüber unterhalten können, was in den Massenmedien läuft, aber keine Ahnung mehr davon haben, wer da in unserem Block durch die Haustür geht?

Das sind doch glitzernde oder grausame Scheinwelten, je nach Stimmung und Interesse: mundgerecht verkürzt und zugespitzt, schneller, greller, geiler. Weisst du, mein Junge, ich finde sie ja auch heiss, die Bilder und Geschichten.

Apropos: McLuhan, der olle Medienguru, den du gestern erwähnt hast, fand heisse und kalte Medien. Heiss sind Medien, die direkt auf den Bauch zielen: Radio, Foto, Internet. Kalt sind solche, die sich nicht von selbst verstehen, sondern Mitbeteiligung fordern: Telefon, Buch, E-Mail. Ich bleibe dabei, mein Junge: Diese Zeitungen, eigentlich kalte Medien, sind Schwachsinn, weil sie so stark vereinfachen müssen, bis sie heiss genug sind, um ohne weiteres gegrabscht, durchwühlt und weggeschmissen zu werden.

Der Junge schreibt:
Das Erbe der Alten

Hey Alter,
Eine Zumutung ist das, eine Frechheit, lieber Vater: die Sauerei, die ihr Alten uns hinterlasst. Seit gut 60 Jahren, seit dem Ende des 2. Weltkriegs habt ihr hier in Westeuropa doch in Ruhe arbeiten können – kein Krieg, keine Hungersnöte, keine Revolutionen. Und was habt ihr getan? Gearbeitet und Wohlstand angehäuft auf Teufel komm raus; ein paar Kinder gezeugt, wenn es zwischen Karriere und Pille passte, und euch einen Dreck darum gekümmert, was draussen vor der Tür abgeht und sein wird eines Tages, wenn die Kinder gross sind und vor die Tür treten müssen.

Es ist soweit, Vater, wir sind gross und stehen draussen. Und sollen jetzt ernsthaft diese Scheisse wegschaffen, die ihr aufgehäuft habt? Höre ich Widerspruch, Vater, ernsthaft?

Wie viele verrecken jeden Tag vor Hunger, während wir Milch wegschütten und im Supermarkt nicht wissen, welchen Honig wählen! Was ist mit den Schuldenbergen, die ihr trotz eurem Wohlstand vor uns aufgetürmt habt? Wie war das mit der Idee, aus aller Welt Öl heranzuschaffen und es in Motoren und Häusern zu verbrennen, um zu heizen und herumzufahren – von eurem lebensgefährlichen Blindflug mit dem Atomkern ganz zu schweigen! Und was ist mit euren Versprechen von Mauern, die fallen, von Freiheit und Demokratie? Zeige mir, Vater, freiheitliche und demokratische Länder! Und zu guter Letzt seid ihr Alten hier immer mehr, werdet immer älter und erwartet von uns wenigen Jungen, dass wir Euch anständig behandeln. Vater, weiss Gott, ich möchte es.

Aber wenn ich darüber nachdenke, kommen mir die Tränen: Denn ich weiss nicht, wie wir diesen Karren aus dem Dreck ziehen sollen.

Der Alte schreibt:
Zuvielisation

Hey Junge,
Scham, Wut, Traurigkeit. Das, mein lieber Sohn, habe ich empfunden bei Deinen Angriffen auf uns Alte. Wir hätten euch Jungen einen unglaublichen Berg von Problemen hinterlassen, sagst Du. Ich kann nicht widersprechen: Dass Menschen verhungern, während wir vor übervollen Regalen stehen, schlägt auch mir auf den Magen. Dass wir abhängig sind von Öl und Kernkraft und quasi nur noch die Wahl haben zwischen Klima- und Atomkatastrophe, macht auch mich frösteln. Und dass wir Alten immer mehr und älter werden, während kaum noch Junge nachkommen, lässt mich schaudern.

Junge, verdammt, wir wollten doch nur das Beste für euch! Haben wir nicht den Mördern in ihren braunen und schwarzen Hemden den Garaus gemacht? Haben wir nicht für Frieden gesorgt in Europa, Wohlstand geschaffen für praktisch alle, euch Jungen ein Leben ermöglicht, wie es keine Generation vorher je kannte?

Du wirst nicht widersprechen, mein Junge. Und soll ich Euch den Spiegel vorhalten? Wie ihr gebannt auf Bildschirme starrt und ebenso wenig nach links und rechts schaut wie wir damals, als Kolonialwaren noch exotisch waren statt ökologisch und Autos Träume statt Alpträume. Wir haben geschuftet und etwas aufgebaut hier; ihr aber rührt doch höchstens ein paar Finger auf Tastaturen, sucht euren Spass und Style und geil.

Ich weiss, Junge, das bringt nichts: euch Junge angreifen. Und ich weiss, schönreden und jammern bringts auch nicht. Nur eine Frage: Haben wir heute nicht die Mittel, um die meisten Probleme zu lösen, die sich stellen? Aber, wie schon der olle Erich Kästner sagte: Es gibt nicht Gutes, ausser man tut es.

Der Junge schreibt:
Jungemütlich

Hey Alte,
du und deinesgleichen haben mich jahrelang in die Schule gezwungen, wo ich mindestens die halbe Zeit irgendwelches Zeugs anhören, mitmachen und lernen musste, das ich meinen Lebtag lang nie mehr brauche. Die andere Hälfte des Schulsto­ffes war teils nützlich, teils eigenartig: vom freundlichen Umgang miteinander, von gegenseitiger Rücksichtnahme, von Respekt, Toleranz, Demokratie und was der Fremdworte mehr sind für Friede, Freude, Eierkuchen.

Jetzt, wo ich gross bin und hinausgeworfen in die Welt, stelle ich staunend fest, dass nichts vorhanden ist von dem Lieben und Netten, das eure Schule uns vermittelt hat. Ganz im Gegenteil: Bei der Arbeit setzen sich jene durch, die am geschicktesten nach oben buckeln, nach unten treten und nach allen Seiten Augen und Ohren offen haben und die Ellbogen bereit. Und auf der Welt ist es keinen Deut besser: Es wimmelt von bösartigen Diktaturen, mafiosen Anarchien und zerfallenen Staatswesen.

Und selbst dort, wo man sich demokratischer Traditionen rühmt, regiert beim näheren Hinsehen ein Filz von schwerreichen Dynastien, die o­ffen sind für kompatible Aufsteiger, aber jede wirkliche Mitbeteiligung zu verhindern wissen. Besonders aufgefallen sind mir die herrschenden Verhältnisse letzthin in der TV-Samstagabend-Kiste «Wetten dass ..?»: Oben auf dem Podest in den weichen Sofas die Schönen und Reichen, denen die Welt gehört; unten in der Manege nützliche Idioten, die unter gönnerhafter Anteilnahme der Oberen den Clown machen – und das Volk ga­fft und applaudiert begeistert, wenn die Regie es wünscht. Verarschen können wir uns selber!

Der Alte schreibt:
Schule machen

Hey Junge,
bitter beklagst Du Dich darüber, dass die Schule Euch Junge kaum etwas gelehrt hat, das nützlich und wertvoll ist im Leben.

Soll ich Dir recht geben? Nein. Erst seit etwa 200 Jahren haben wir hierzulande überhaupt ein umfassendes Schulwesen. Es ermöglicht einerseits allen Heranwachsenden, ja zwingt sie sogar dazu, sich sogenannte Kulturtechniken wie Lesen oder Schreiben anzueignen.

Andererseits sind wir Alten alle dazu verpflichtet, das mit unseren Steuern zu bezahlen, sodass die Schule für die Jungen kostenlos ist.

Du magst das für eine Selbstverständlichkeit halten. Schau Dich um auf der Welt und in der Geschichte: Es ist nicht selbstverständlich, obwohl sich erweist, dass Gegenden mit derartigen Schulwesen relativ reich und stabil sind.

Nun hinkt die Schule mit ihrem Stoff aber teilweise hinter dem her, was angesagt ist: Die Schule kann die Zukunft nicht voraussehen, und neben Grundsätzlichem wie Lesen, Schreiben und Rechnen gibt es von Aids bis zum Internet immer wieder Themen, die mit Verzögerung die Schule erreichen. Die Schule ist hier ähnlich wie der Staat, der mit seinen Regelungen ebenfalls immer hinter der Entwicklung herhinkt.

Wegen dieser zwangsläufigen Verzögerung gleich die ganze Schule oder den Staat zu spülen, ist einfach Schwachsinn.

Und wenn Du der Schule vorwirfst, mein Junge, dass sie nicht auf die Härten der Arbeitswelt vorbereitet, sondern rücksichtsvollen Umgang predigt: Soll man die Kinder zu Ratten erziehen, weil die Welt in weiten Teilen ein Rattenrennen ist? Ich finde trotz allem besser, sie zu Menschen erziehen zu wollen, die menschlich miteinander umgehen.

Der Junge schreibt:
Alleingepfercht

Hey Alter,
wie ihr Alten miteinander umgeht, ist doch einfach eine Katastrophe! Wie sollen wir Jungen beziehungs- oder gesellschaftsfähig werden bei solch unsäglichen Vorbildern? Euer verfluchtes Misstrauen, eure Missgunst, diese Verlogenheit und Heuchelei, dieses Gezeter von aufgeblasenen Egos, die jämmerlich zusammenschrumpfen, wenn Menschliches, Allzumenschliches gefragt ist.

Wenn es wenigstens echte Räume gäbe, in denen wir Jungen von euren kranken Seelen verschont wären.
Zuhause vielleicht? Welches Zuhause bitte? Das von Mami, das von Papi, das von früher oder das von jetzt mit all den Ex und Möchtegerns und dauerprovisorischen  Lebensabschnittspartnerschaften, die ständig auf allen Seiten zu platzen drohen vor lauter Angst, Ansprüchen und Anmassungen.

Oder bei der Arbeit vielleicht? Wo wir Jungen nicht einmal bei Sonntagsreden wirklich ernstgenommen werden; wo ihr euch mit bleckenden Zähnen und schrillen Stimmen umschleicht und belauert wie Hyänen; wo ihr nach oben buckelt und nach unten tretet; wo ihr vorne feige schweigt und hinten fies austeilt!

Im Kollegenkreis? Wo die halbgaren Produkte all dieser kranken Klimas aufeinandertreffen; wo Sprüche, Pöbeleien oder Posen unsere Unsicherheit, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Leere verwischen und wo von den Schuhen bis zu den Hüten und Handys verführerische Images ausgebuffter Markenstrategen mangelnde Persönlichkeit besetzen.

Flüchten wir uns also vor unsere kleinen und grossen Bildschirme, schauen zu und bespiegeln uns selber. Hier, wenigstens hier kann uns niemand und haben wir bis in die Fingerspitzen die Kontrolle.

Der Alte schreibt:
Erfolgenschwer

Hey Junge,
was meinst du denn, wie uns Alten zumute ist, Junge? Denkst du, wir setzen uns gern dieser fiesen Arbeitswelt aus, diesen kaputten Beziehungskisten und dem Massenmedienwahn? 

Wütend und traurig macht es mich, wenn du dich über unsere kranken Seelen beklagst und findest, da könne bei euch Jungen nichts Anständiges herauskommen. 

Wie atmeten wir frei, als in den 1960ern allen klar wurde, wie nackt viele Kaiser sind: der autoritäre Alte zuhause, bei der Arbeit, in der Schule, der Kirche, dem Militär. Wie waren wir willig, als in den 1970ern die Grenzen des Wachstums auftauchten und wir begannen, Altpapier, Glas und Metall zu sammeln, Kompost aufzuhäufen und Jute statt Plastik herumzutragen. Und wie hoffnungsvoll war die Zukunft, als in den 1980ern die Mauern fielen und in den 1990ern die Fackeln der Freiheit überall aufzuleuchten schienen.

Haben wir uns selber verarscht, Junge, oder wurden wir verarscht?
Klar, diese Arbeitswelt macht krank: Aber was ist, wenn wir aufbegehren und uns wehren gegen schleimige Kollegen und brutale Chefs! Ja, wir haben die Wahl, aber sie hat ihren Preis.

Manche verabschiedeten sich in Kommunen und Selbstverwaltung: Wenn sie denn nicht verschwunden sind, vegetieren sie vor sich hin oder sind Sekten, die ihre Selbstversklavung verbrämen.

Wir gewöhnlichen Alten sind gewöhnlich versklavt, gefangen in Ratenrechnungen, aber leidlich bequem und sicher. Der Preis dafür sind Demütigungen und Kleinkriege, die wir nach Hause tragen. Überdies mit ansehen zu müssen, wie alle Hoffnungen platzen und die Welt, regiert von Monstern, vor die Hunde geht, ist auch uns Alten unerträglich.

Der Junge schreibt:
Patridiot

Hey Alter,
willst du es nicht zugeben, Vater, oder siehst du es nicht? Dass wir verarscht werden von den Herrschaften in Konzernetagen und Regierungssitzen; dass seit der Aufklärung vor 200 Jahren den kleinen Angestellten und Gewerblern Sand in die Augen gestreut wird, und dass Möchtegerns und andere Handlanger das üble Spiel ahnungs- und hemmungslos mitspielen und anheizen! 

Vater, das müsst ihr doch gemerkt haben! Oder wart ihr allzu geblendet und abgelenkt von dem bisschen Wohlstand, der für euch abfiel auf Kosten der Kolonien? 

Natürlich kann man das weiter verdrängen, Alter. Aber wenn ich mir den ganzen Schlamassel ansehe, ist es höchste Zeit, hinzuschauen und es einzufordern: Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, Mitbeteiligung, Menschenrechte, Menschlichkeit.

Nein, Vater, es geht nicht um Sprüche von Revolution, es sind Not-wendig-keiten: Wir können nicht so weiterfahren, wir müssen haushälterisch umgehen mit den Ressourcen und sie fair verteilen auf der Welt, die längst ein Dorf ist, was ja auch dem ollen McLuhan zuerst aufgefallen ist.

So schwer ist es nicht: Wenn die Herren es ernst meinten, würden sie aufhören, in politischen Dingen von Eigenverantwortung zu schwafeln und stattdessen Regeln schaffen. Und wenn es ihnen ernst wäre mit dem demokratischen Rechtsstaat, würden die Regeln nicht im Standortwettbewerb der Staaten aufgerieben, sondern weltweit durchgesetzt.

Es ist keine Utopie, Vater, wir sind nur ein paar Schritte entfernt: Die UNO des frühen 21. Jahrhunderts ist näher dran als die Eidgenossenschaft des frühen 19. Jahrhunderts. Aber die Herren der Welt müssen die Schritte machen.

Der Alte schreibt:
Beziehunger

Hey Junge,
wie Eure Sexualität funktioniert, das kapiere ich nicht. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als die sexuelle Orientierung persönliche Ansichtssache wurde und gleichgeschlechtliche Sexualität endlich nicht mehr verdammt war. Es gab die Pille, die vor allem jungen Frauen die Möglichkeit gab und die Verantwortung, Sexualität unabhängig von der Fortpflanzung auszuleben – und wenn es dann trotzdem ganz dumm lief, war Abtreibung naheliegend und möglich statt verboten und gefährlich. Schliesslich kam Aids, das dem wilden Hin und Her und kreuz und quer ein tödliches Ende bereitete und den Pariser zum Accessoire machte.

Wie ich meine, zog sich jedoch durch all diese Entwicklungen und Jahre ein roter Faden: der Traum und das Ziel von trauter Zweisamkeit. Wir versuchten zwar alles und stiessen die Grenzen so weit hinaus, dass es lebensgefährlich wurde. Aber mir will scheinen, dass die allermeisten sich nach der Zweierkiste sehnten: die dauerhafte, enge, monogame Partnerschaft; einander zugetan und beieinander aufgehoben sein; zusammen alt werden halt – auch wenn es den halben misslang. 

Wenn ich nun Euch Junge sehe, scheint mir das vorbei: zwar mit allen ein bisschen, aber mit niemandem richtig; zwar voll krass sexualisierte Worte, Bilder und Gesten, auch Küsschen hier und Umarmungen da. Aber mit Ausnahme von ein paar exotischen Freaks wenig Taten, wenig Pärchenbildung, wenig Sex. Keine Lust? Kein Bock? Sehe ich es richtig, reduziert sich das bei Euch Jungen auf hdmfg per SMS? Obwohl die Biologie Euch Jungen doch ebenso treiben muss wie einst uns! Oder sehe ich es einfach nicht?

Der Junge schreibt:
Akzeptotentanz

Hey Alter,
was du über die Sexualität von uns Jungen absonderst, ist wirklich jenseits! Willst du uns verarschen? Da vögelt ihr in der Weltgeschichte herum, bis ihr buchstäblich verreckt; da wechselt ihr Ehepartner im Takt von Kleidermoden, während wir Jungen, eure Kinder, keine richtigen Eltern mehr haben, keine Familie und kein Zuhause, aber immer wieder neue Lebensabschnittspartner, neue Halbgeschwister und neue Lebensmittelpunkte.

Und dann kommt so ein alter Sack und hält uns Jungen vor, wir würden uns nicht auf Beziehungen einlassen, nicht auf Zweierkisten, nicht einmal auf Sex. Verarschen können wir uns selber! Fick dich ins Knie, du alter Wixer, rutscht mir da doch gleich raus.
Wollt ihr Alten wirklich, dass wir Jungen das tun, womit ihr brutal auf unsere Kosten gescheitert seid? Das kann doch nicht euer Ernst sein!

Was ihr uns in all diesen Jahrzehnten an Stabilem geboten habt, war doch höchstens eure Unzuverlässigkeit, euer Egoismus und eure wechselnden Worthülsen von hyperaktiv über verhaltensoriginell bis zu grenzwertig.

Nirgends Sicherheit, Geborgenheit und Klarheit; dafür rundum zugedröhnt mit Sex, Drugs, Rock ’n Roll und Gelaber.

Und dann uns Jungen noch Vorwürfe machen, wenn wir mit unserem bisschen Beziehungsenergie haushälterisch umgehen, es achtsam verteilen und nicht ständig rummachen und reinstechen.

Das machen wirklich nur noch ein paar exotische Freaks, wie du geschrieben hast. Damals, als ihr jung wart, mögen solche Freaks megacool gewesen sein; wir leiden noch immer darunter, und ihr könnt Gott und uns danken, wenn eure Enkel darunter nicht mehr leiden müssen.

Zwischenruf von Muttern:
Jetzt ist genug

Hey Männer,
jetzt ist genug, jetzt schreibe ich, die Mutter dieses Jungen und die Frau dieses Alten, die seit Wochen die Spalte da zwischen Schnügel und Schniedel verstopfen. Seit Jahrzehnten quäle und freue ich mich mit diesen Männern: Wie hat mich der Kleine angestrahlt früher, wenn ihm etwas gelang, wenn er mir eine Freude machen konnte oder ich ihm! Wie hat er sich in meine Arme geflüchtet, wenn er sich fürchtete! Wie haben wir uns geliebt, wie lieben wir uns noch: sprachlos heute, ich verstehe ihn und kann ihm doch nicht folgen in seiner Wut und Traurigkeit über die Welt, dieses Jammertal.

Und mein Alter: Wie habe ich ihn geliebt, vergöttert schon damals in der Schule, als er mir sagte, ich sei sein Schatz und er mein Freund. Er werde mir nicht treu sein, warnte mich meine Mutter später, als wir grösser waren und immer noch zusammen. Schlug ich es in den Wind, liebte ich ihn, der mich auch so anstrahlen und so wahnsinnig lieben konnte, zu sehr? Wie sehr liebe ich ihn noch, wenn er mich berührt, meine schlaffe, schrumpelnde Haut streichelt!

Er ist mir nie treu gewesen, er hat mich wohl tausendmal betrogen und angelogen und beschwichtigt. Wie oft sass ich mitten in der Nacht weinend in der Küche, wusste und ahnte, dass er bei einer anderen Frau war? Wie oft wollte ich ihn verlassen?

Ich konnte nicht: war längst weg aus meinem Beruf, hatte eine Handvoll Kinder, wohin hätte ich gehen sollen? Ich tröste mich damit, dass er immer wieder zu mir zurückgekommen, immer noch bei mir ist, mich immer noch begleitet und liebt, irgendwie. Und ich glaube, ich hoffe und liebe.

Der Junge schreibt:
Patriarsch

Hey Alter,
und wie ist das mit deinem Menschenbild, Vater; dem Bild, das ihr alten Männer habt von Frauen, Kindern und euch selbst?
Deine Sonntagsreden mag ich so wenig hören wie die politisch korrekten Phrasen von Gleichberechtigung und Wertschätzung: Es sind verlogene Sprüche.

Zuerst zu uns Kindern: Seid ihr aufgestanden in der Nacht, habt ihr Schoppen gewärmt, Windeln gewechselt, Erbrochenes aufgewischt? War da Verantwortung jenseits vom Heimtragen eines Teils eures lumpigen Haufen Geldes, seid ihr nicht bei jeder Gelegenheit geflüchtet? Hey Alter: Da ist nichts ausser einfältigem Vaterstolz über brave Sonntagskinder und jämmerlicher Hilflosigkeit oder durchschlagende Wut über die hungsgewöhnlichen Alltagsgesichter zuhause, in der Schule, der Lehre.

Das Frauenbild? Ihr seid doch hormongetriebene Säcke, die Frauen zuerst als Objekte sehen: für Sex vor allem und fürs Image, solange die Haut straff ist, später fürs Kochen, den Haushalt und die Brut. Ich kenne eure Sprüche im Militär, in Garderoben, an Bars, und ich sehe sie gespiegelt auf dem Zeitungs- und TV-Boulevard, auf dem so sinnlich wie besinnungslos Weibchen herumstolzieren.

Und erst das Bild eurer selbst: aufgeblasen und wehleidig, stolz auf die Kohle und die Karre, die Untergebenen und die Geliebte, die jämmerlichen Siege über Rivalen bei der Arbeit, auf der Strasse, dem Sportplatz und anderen Arenen hirnlosee Kampfhähne – und auch das sehe ich gespiegelt in Massenmedien, auf einen Blick zusammengefasst und in 20 Minuten erledigt.
Es kotzt mich an, Oma hatte recht: Ärsche und Geld regieren die Welt.

Der Alte schreibt:
Menschliches, Allzumenschliches

Hey Junge,
teils teile ich deine Wut über das Menschenbild von uns alten Säcken, teils widerspreche ich entschieden. Wir alle sind hormongetriebene Untiere, doch uns das vorzuwerfen, bringt nichts: Können wir etwas fürs Testosteron, das uns auf Tempo, Titten und Ärsche fixiert? Junge, das ist Biologie: Wir können nicht anders, weil die Natur will, dass wir uns besinnungslos fortpflanzen – es sei denn, im Mutterbauch geraten die Hormone durcheinander und statt Weibchen und Männchen kommen Mischformen heraus von Homosexuellen bis zu Hermaphroditen. Doch so wenig du Schwulen ihre naturgegebene Neigung vorhalten darfst, so wenig darfst du Machos schelten.

Wo ich dir Recht gebe, ist bei der Verlogenheit: Es braucht zu viel Disziplin und Mut, in testosterongefluteten Männerbünden wie Garderoben, Kasernen oder Bars zu widerstehen und Mensch statt Mann zu sein – Frauenversteher ist ja sozusagen ein Schimpfwort. Dies zumal Werbung und Medien rundum herrliche und dämliche (!) Reize kitzeln, weil Männlein und Weiblein sich ihnen besinnungslos ausliefern – die unwillkürliche körperliche Anziehung ist ja auch geheimnisvoll; gibt es Schöneres als menschliche Rührung, Berührung?

Wenn wir aber vorbildliche Menschen sein sollen, müssen wir das Tier in uns verdrängen, verstecken, verleugnen – was den austeilenden Männern offenbar leichter fällt als den empfangenden Frauen. Darüber hinaus von uns Männern zu verlangen, weibliche Seiten zu zeigen samt Häuslichkeit und Brutpflege, überfordert uns – das ist kaum 40 Jahre lang überhaupt erst ein Thema, ein Klacks in der Geschichte; mal schauen, ob ihr es besser macht, Junge.

Der Junge schreibt:
Hoffnungsschlimmer

Hey Alter,
meinst du allen Ernstes, sie würden sich um uns scheren, wenn es darauf ankommt? Das ist doch eine verlogene Bande! Komm mir nicht mit Gesetzen, mit Menschenrechten, Genfer Konvention und all den Phrasen, die im Falle eines Falles das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen! Hat uns nicht zuletzt der Balkankrieg, hat nicht eben die CIA mit ihren illegalen Gefangenenlagern in aller Herren Ländern gezeigt, wie dünn die Decke der Zivilisation ist, wie wenig es braucht, dass Menschen übereinander herfallen und sich totschlagen? Natürlich machen die Menschen das nicht einfach so, natürlich sind sie grob getrieben von simplen Sadisten und fein geführt von denen, die das Sagen haben im Kleinen und im Grossen auf der Welt.

Es ist verdammt einfach, das Böse herauszuholen und anderen anzuhaften: religiöse, politische, familiäre Zugehörigkeit, Hautfarbe, Eigentum, Tradition. Und ich zweifle daran, Vater, dass die Schweiz grundsätzlich besser ist. Wie brauchen gar nicht von den Milliarden korrupter und krimineller Gelder zu reden, an denen Blut klebt, das wir sorgfältig abwaschen. Wir können auch anders: Wie war es, als die Schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda ein Radio aufbaute, ohne die Worte zu verstehen, die über den Sender gingen – bis klar war, dass da mit Schweizer Hilfe ein Völkermord angezettelt, organisiert und durchgezogen wurde?!

Wohl wahr, Vater, noch toben die menschenverachtenden Stürme an den Peripherien; in der Schweiz ist es so ruhig wie im Auge des Orkans. Doch täuscht der Eindruck, dass die Stürme näherkommen? Was um Gottes Willen, Vater, sollen wir tun?

Der Alte schreibt:
Menschliches, Allzumenschliches

Hey Junge,
du hast ja Recht, Junge: In Ruanda ein Radio aufzubauen und nicht zu merken, dass es bei einem Völkermord eine entscheidende Rolle spielt, war ein grausamer Höhepunkt der Entwicklungshilfe der Schweiz – und überhaupt.

Von McLuhan, dem olle Medienguru, wussten die Entwicklungshelfer offenbar nichts: Das heisse Medium Radio kann Menschen aufpeitschen, das haben zuerst die Nazis organisiert vorgemacht. Wenn man den Menschen wirklich helfen will, setzt man sie gescheiter vors kühle Fernsehen: Schaut fern, wenn alle Menschen Geschwister werden sollen. Aber lest, wenn ihr den Staat erhalten wollt.

Aber was nützt es, Junge, zu jammern über die Zustände und zu schimpfen über uns Alte? In die Verantwortung wächst ihr hinein, wie wir Alten hineingewachsen sind; auch wir waren einmal jung, ärgerten uns über die Alten und zitterten vor den Lasten, die sie uns überliessen.

Und zum einen haben wir es immerhin versucht: Es gibt die UNO und die Menschenrechte, es gibt das Völkerrecht und einen internationalen Gerichtshof, es gibt guten Willen und gute Menschen zuhauf. Zum anderen kenne ich weiss Gott keine Alternative zum demokratischen Rechtsstaat. Darf man ihn in Bausch und Bogen verwerfen, weil Machtpolitiker und Konzernstrategen ihn zurechtbiegen bis nur noch Karikaturen übrigbleiben von Berlusconi bis Putin?

Junge, du und deinesgleichen machen es sich zu einfach: Es kümmert euch einen Dreck, dass es Gewaltentrennung gibt, ihr wisst ja nicht einmal, was das ist! Oder habt ihr je darüber nachgedacht, wie wichtig es ist, dass die Gewalten getrennt sind und nicht dieselben Menschen Gesetze machen, sie beurteilen und durchsetzen? Eben!

Zwischenruf von Muttern:
Frau und Mutter

Hey Männer,
sie hören nicht zu, diese Männer, einmal mehr. Stattdessen dreschen sei aufeinander ein: typisch Mann! Soll ich mich darüber ärgern oder habe ich mich schon so daran gewöhnen müssen, dass es mir egal ist?

Nein, schreit es tief in mir: Jahrzehntelang begehrte ich nur in Extremfällen auf, ansonsten habe ich geschwiegen, mich in die Küche und den Haushalt verzogen, meine Arbeit gemacht, Nerventropfen geschluckt und mich eingesetzt im Frauenverein, der Kirchgemeinde oder sonstwo.

Es ist genug, Männer, ihr solltet schweigen: Sind es nicht ohnenhin nur Sprüche, die ich von euch gehört habe in all den Jahren und die ihr jetzt hinausposaunt – oder waren da auch Taten? Geld heimzubringen reicht nicht; mit der Familie in der Öffentlichkeit eine gute Figur abzugeben, ist beschämend, desgleichen draussen auf Gutmensch zu machen und für alle ein offenes Ohr und ein ermunterndes Wort zu haben.

Was ist mit meinem strahlenden Jungen geschehen? Hat er sich verändert, als er unsere Verlogenheit und Heuchelei erkannte? Ich bin traurig und hilflos, mein Junge, ich erreiche dich noch weniger als deinen Vater! Wollte ich nicht alles richtig machen, habe ich mich nicht aufgeopfert, bin ich nicht zurückgestanden, um euch Raum zu geben für eure Entfaltung? Und das Resultat: der Mann ein unverbesserlicher Schürzenjäger, der Junge ein aggressives Nervenbündel? Wollt ihr es mir verargen, dass ich mich vergrabe in meinen Büchern und Zuflucht suche bei meinem Gott, der mich tröstet in diesem Jammertal? Lache, wenns nicht zum Weinen reicht, singt Grönemeyer. Das Lachen mit euch war so schön, als es unbeschwert war, weinen mag ich nicht mehr.

Der Mann schreibt:
Liebe und Lust

Hey Frau,
wir hören dich, ich höre dich, meine Begleiterin seit Jahrzehnten. Ich höre dir wohl auch zu: deine Klagen über mich, deinen Mann, und das Unverständnis für ihn, deinen Jungen, unseren Sohn. Ich wage aber kaum, zu antworten. Meine Schuld ist übergross, du hast sie  vor mir aufgeschichtet, was soll ich sagen? Dass ich dich betrogen habe, dass ich dich liebe? Lächerlich, widersprüchlich!

Ich musste still werden nach deinen traurigen Worten über hoffnungslos traurige und verweifelte Nachtstunden, wenn ich wohl wieder eine Frau rumgekriegt hatte und du alleine warst mit unseren Kindern.

Es gibt keine Rechtfertigung, gibt es Erklärungen? Wer weiss, was Frauen in mir auslösen, in uns Männern, die auf sie stehen? Eine Bewegung, ein Duft, eine Silhouette; ein Augenaufschlag, eine Geste, ein Duft; die Rundung einer Hüfte, die Wölbung einer Brust; Haare im Wind; Härchen auf einem Arm; Haut.

Stürme tosen jeweils in mir, meine Liebste, ob dieser unerhörten Sinnlichkeit – sie tosen auch und immer noch, wenn ich dich berühre, meine Frau. Lächerlich, widersprüchlich?

Ich will meine Schuld nicht kleinreden, ich will mich nicht rausreden, die Versuchung war gross und ich habe ihr nicht widerstanden. Ich bin nicht stolz auf meine Eroberungen wie mancher Möchtegern, zu viel Schmerz ist verbunden mit dieser Lust: Haut und Haar berühren, einen Büstenhalter öffnen, zwischen nackte Schenkel fahren – trockener Mund, heftiger Atem, die unheimliche, unbeschreibliche Kraft der Sexualität.  

Der Sohn schreibt:
Liebe, Eltern

Hey Eltern,
ich hatte Vaters Menschenbild kritisiert, liebe Eltern, und durch deine Zeilen, liebe Mutter, hat das Gottesbild geschienen. Als ich ein Kind war und ihr uns diese Geschichten erzählt habt von Himmel und Hölle und Tod und Teufel, blieben vor allem Verwirrung und Angst haften: zu schlecht schienen mir meine Gedanken, zu gross meine Schuld, zu gering der Trost in diesem Glauben.

Es ist ein Kinderglaube, dem ihr Alten anhängt, er beleidigt den Verstand des Menschen und er beleidigt die Schöpfung in ihrer unbeschreiblichen Grösse und Vollkommenheit.

Ein Gott, der mit einer Frau körperlos einen Sohn zeugt? Ein Gott, der einem Kaufmann seine Worte einflüstern lässt? Ein Gott, der ein paar Menschen auserwählt hat? Meine Lieben, das ist doch einfach lächerlich, das können erwachsene Menschen, die Augen haben zu sehen und Ohren zu hören, doch nicht ernst nehmen – geschweige denn, sich deswegen in die Haare geraten und einander totschlagen für den rechten Kinderglauben – grosse Worte, ich weiss, aber ganz gewiss gelassen und voller Gottvertrauen ausgesprochen.

Umso einfältiger wird eurer Kinderglaube, als die modernen Naturwissenschaften desto mehr mit einer Allmacht rechnen, je tiefer sie in die Naturgesetze eindringen. „Gott würfelt nicht“, fand Einstein, hinter Raum und Zeit tun sich Löcher auf, die den Menschen so verschlossen bleiben wie Gottes Antlitz. Es braucht keinen Kinderglauben, ihr Kleingläubigen, originell und gewaltig sich das Allmächtige ohnehin: im Kleinsten und Grössten, ständig und überall, ganz ohne einfältige Geschichten in verstaubten Büchern, an denen zu viel Blut klebt.

Der Sohn schreibt:
Liebe, Junge

Hey Junge,
deine Zeilen zu unserem Gottesbild haben uns, deine Eltern, getroffen und berührt; wir haben uns zusammengesetzt und schreiben dir gemeinsam. Du hast natürlich recht, wenn du die Religionen mit ihren teils absurden, teils grotesken Geschichten als Kinderglauben abtust, und du hast Recht, wenn du von einem Gott sprichst, der grösser ist, als wir Kleingläubigen meinen und in unseren verstaubten Büchern zu finden glauben.

Aber, Junge, wie lange schon werden uns und unseren Vorfahren diese Geschichten von Respekt einflössenden Menschen erzählt: Eltern, Lehrer, Pfärrer! Und wie kurz ist die Zeit, in der wir erkennen, wie gross die Welt ist und das Universum, wie rund die Erde und wie gebogen der Raum: grenzenlos, aber nicht unendlich. Auch das scheint grotesk und absurd, ist aber wissenschaftlich erhärtet – wirklich grandiose Pointen der Schöpfung!

Aber sich zu lösen von den alten Geschichten, Junge, ist nicht einfach – und vielleicht auch nicht gut: Denn in den verstaubten Büchern unserer Religionen ist ja auch und vor allem die Rede von Gewissenhaftigkeit, von Gerechtigkeit und von Liebe. Und noch etwas bringen uns die Botschaften in diesen Büchern: Sie geben uns Hoffnung, Kind, und sie spenden uns Trost in unserer jämmerlichen Unzulänglichkeit, unserer tagtäglich angehäuften Schuld, unserer Einsamkeit in den letzten Dingen und unserer Hinausgeworfenheit in diese grosse, weite, unsäglich schöne und schreckliche Welt.

Ersten Kommentar schreiben

Kommentar verfassen